1. Hoffnungsvolle Ausgangslage
Gerichte haben gemäss Art. 158 ZPO «jederzeit», d.h. unabhängig von der Rechtshängigkeit eines Erkenntnisverfahrens, Beweise abzunehmen.2 Dies, wenn erstens ein gesetzlicher Anspruch dafür besteht,3 zweitens Beweismittel infolge einer Gefährdung zu sichern sind oder drittens sonst ein schutzwürdiges Interesse 4 gegeben ist. Ein «schutzwürdiges Interesse» wird bejaht, wenn ein Sachverhalt glaubhaft gemacht wird, gestützt auf den das materielle Recht einen Anspruch gewährt und zu dessen Beweis das abzunehmende Beweismittel dienen kann.5 Dies soll Parteien helfen, frühzeitig und einfach ihre Beweis- und Prozesschancen evaluieren zu können. Davon wird nicht zuletzt ein Beitrag zur Vermeidung aussichtsloser Prozesse 6 und zur Förderung der aussergerichtlichen Streitbeilegung 7 erhofft.
Grundsätzlich wurden damit gute Voraussetzungen geschaffen, um der Prozessrealität, in der primär die beweisbare Faktenlage über den Verfahrensausgang entscheidet, besser Rechnung tragen zu können. In einem weitgehend von der Verhandlungsmaxime 8 geprägten Prozessalltag, in dem die Abklärung, die Behauptung und der Beweis des rechtserheblichen Sachverhalts allein der beweisbelasteten Partei zufallen, sind Erleichterungen zur effizienten Fest- und Sicherstellung von relevanten Tatsachen beziehungsweise Beweisen zu begrüssen. Zum einen sind mit einem Prozess meist beachtliche Kostenrisiken verbunden,9 deren Eingehung es auf einer vernünftigen Basis abzuwägen gilt.10 Zum anderen bestehen trotz hohen Anforderungen an die Substanziierung von Behauptungen kaum griffige Mittel zur Beschaffung des wesentlichen Prozessstoffs, wie dies etwa im US-amerikanischen Recht durch die «pre-trial discovery» der Fall ist.11 Nicht selten versuchen Rechtsuchende deshalb, zur Beweismittelbeschaffung eine Strafuntersuchung zu initiieren.12
2. Beschneidung durch Bundesgericht
Zwar zeigt sich das Bundesgericht gegenüber der vorsorglichen Beweisführung nicht grundsätzlich zurückhaltend. So hielt es fest, dass an die Glaubhaftmachung des «schutzwürdigen Interesses» keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind,13 was eine praktikable Abklärung der Prozesschancen fördert. Zugleich verlieh das höchste Gericht dem hoffnungsvollen Institut der vorsorglichen Beweisführung jedoch auch bereits empfindliche Dämpfer. Im Fokus stehen drei Entscheide, wovon der letzte vor kurzem erging:
2.1 Keine vorsorgliche Einvernahme von Zeugen
Einer verunfallten Person wurde mit Bundesgerichtsentscheid 4A_118/2012 vom 19. Juni 2012 die Einvernahme von Zeugen zur Beweissicherung verweigert. Das Bundesgericht erwog, mit dem blossen Hinweis auf den allgemein bekannten Umstand, dass das Erinnerungsvermögen von Zeugen mit der Zeit nachlasse, könne noch nicht auf eine Gefährdung im Sinne von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO geschlossen werden. Das abnehmende Erinnerungsvermögen liege gerade in der Natur dieses Beweismittels und rechtfertige für sich allein noch keine vorsorgliche Beweisabnahme. Vorsorgliche Zeugeneinvernahmen seien nur zu gewähren, wenn mit einer entscheidenden Reduktion der möglichen Beweiskraft zu rechnen sei.14
Für eine solche Beschränkung der im Rahmen von Art. 158 ZPO abzunehmenden Beweismittel besteht keine gesetzliche Grundlage. Zwar nennt die Botschaft zur ZPO als Beispiel für die Beweissicherung die «Einvernahme eines todkranken Zeugen». Dennoch ist fraglich, ob dem historischen Gesetzgeber eine solch restriktive Anwendung, wie sie nun das Bundesgericht praktiziert, tatsächlich vorschwebte.15
Mit Sicherheit ist eine solche Einschränkung kaum praxisgerecht. Bis in einem Erkenntnisverfahren Beweise abgenommen und auch entscheidrelevante Zeugen einvernommen werden, verstreichen nicht selten Jahre. Können wesentliche Aussagen frühzeitig gesichert werden, vereinfacht es die Arbeit des Erkenntnisgerichts und erhöht die Akzeptanz gegenüber Entscheiden.
Die Begründung des Bundesgerichts erscheint zudem widersprüchlich und offenbart salopp formuliert einen gewissen Fatalismus: Weil wir alle wissen, dass diese Beweismittel wegen des schwindenden Erinnerungsvermögens von Zeugen ohnehin verloren gehen oder zumindest stark an Prägnanz einbüssen können, gibt es auch keinen Grund, sie vorsorglich (das heisst im noch beweistauglichen Zustand) zu sichern.
Der Entscheid bezieht sich zwar primär auf die Sicherung von Beweisen, erklärt in einem obiter dictum aber, dass Zeugen auch zur Klärung der Prozesschancen nicht vorsorglich einzuvernehmen seien. Das Bundesgericht führt dazu an, dass im Vorfeld eines Verfahrens ohnehin meist unklar sei, wie sich bestimmte Zeugen äussern werden. Diese fehlende Abschätzbarkeit rechtfertige für sich noch keine vorsorgliche Beweisabnahme.16
Auch dies läuft auf einen Widerspruch hinaus: Weil wir alle wissen, dass Aussagen von Zeugen ungewiss sind, soll gerade da keine Möglichkeit zur vorprozessualen Ausleuchtung dieser Ungewissheit bestehen. Die Abschätzung von Prozesschancen sollte jedoch gerade bezwecken, dass «die (üblichen) Ungewissheiten der Prozessführung durch teilweise Vorwegnahme der Beweisabnahme» vermindert werden können.17
2.2 Keine unentgeltliche Rechtspflege
2.2.1 BGE 140 III 12
Einem verunfallten Fussgänger, der die vorsorgliche Einholung eines gerichtlichen Gutachtens zur Beurteilung der medizinischen Dauerfolgen verlangte,18 wurde in BGE 140 III 12 die unentgeltliche Rechtspflege verweigert. Dies, weil die vorsorgliche Beweisführung lediglich den Entscheid über die Einreichung einer potenziellen Klage erleichtern solle, in ihrem Rahmen aber noch «nicht über materiellrechtliche Rechte und Pflichten» entschieden werde und somit noch kein «Rechtsverlust» drohe, falls der Prozess wegen fehlenden finanziellen Mitteln nicht geführt werden könnte.19
Dem wurde zu Recht entgegnet, dass Bedürftige damit von der vorsorglichen Beweisführung faktisch ausgegrenzt seien und dadurch ohne Möglichkeit zur kostenschonenden Abschätzung ihrer Chancen direkt in einen Prozess gedrängt würden. Dies sei deshalb kritisch, da die unentgeltliche Rechtspflege den Klagenden nicht davon entbinde, bei Unterliegen eine Parteientschädigung leisten zu müssen.20
2.2.2 Entscheid 4A_334/2015 vom 22. September 2015
Ungeachtet dieser Kritik hielt das Bundesgericht nun in seinem neusten Entscheid daran fest, bei der vorsorglichen Beweisführung keine Kostenhilfe zu gewähren. Erneut betraf der Entscheid eine in einen Verkehrsunfall verwickelte mittellose Person, die um vorsorgliche Einholung eines gerichtlichen Gutachtens zu den Unfallfolgen ersuchte.
Wieder fiel die Begründung gleich aus: Die vorsorgliche Beweisführung sei bloss ein Hilfsverfahren, in dem mangels Beurteilung materiellrechtlicher Rechte und Pflichten noch kein Rechtsverlust drohe.21 Folglich wird auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht) für gewahrt erachtet. Aus dieser Bestimmung lasse sich weder ein Anspruch auf vorsorgliche Massnahmen noch ein genereller Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ableiten. Mangels Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die vorsorgliche Beweisabnahme sei auch die sich aus dieser Norm ergebende Waffengleichheit nicht verletzt, der Rechtszugang sei für Mittellose weiterhin gewährleistet, da finanzielle Hilfe im Hauptverfahren uneingeschränkt beantragt werden könne.22
Auch eine Diskriminierung verneinte das Bundesgericht: Art. 8 Abs. 2 BV bleibe gewahrt, da Mittellose durch die Verweigerung eines kostenlosen vorsorglichen Beweisführungsverfahrens «nicht ungleich behandelt und schon gar nicht diskriminiert» würden. Personen mit genügend Geld seien anders als Mittellose einem prozessualen Kostenrisiko ausgesetzt. Deshalb seien sie zur besseren Einschätzung ihrer Prozesschancen auch auf die Gewinnung von Informationen in Form von potenziellen Beweismitteln angewiesen. Bei Mittellosen sei dies dagegen «gerade viel weniger» der Fall, da sie ein Hauptverfahren jederzeit einleiten können, ohne sich dem Risiko der Tragung der Gerichtskosten auszusetzen.23
Erneut blendet das Bundesgericht hartnäckig aus, dass Prozessieren selbst bei unentgeltlicher Rechtspflege nicht risikofrei ist. Parteientschädigungen sind bei Unterliegen trotzdem zu leisten,24 was für Mittellose bei höheren Streitwerten (wie bei Haftpflicht- oder Erbstreitigkeiten häufig der Fall) rasch ein signifikantes Risiko darstellen kann.25 Zudem sind Prozesse oft langwierig und belastend. Daher sollte es auch Mittellosen möglich sein, sich effizient eine Entscheidgrundlage dafür zu beschaffen, ob sie einen Prozess tatsächlich führen sollen. Dieser individuelle Aspekt ist zugleich von rechtspolitischem Interesse: Es bleibt fragwürdig, weshalb Gerichte und Gegenparteien bei bedürftigen Parteien mit aufwendigen Verfahren belastet werden sollen, obwohl solche Verfahren unter Umständen durch vorsorgliche Beweisabnahmen verhältnismässig kostengünstig vermieden werden könnten.26
3. Fazit und Ausblick
Es wäre zu begrüssen, wenn das Bundesgericht die genannten Restriktionen dereinst lockern und die vorsorgliche Beweisführung damit stärken würde. Fragwürdig ist besonders der faktische Ausschluss bedürftiger Personen von der vorsorglichen Beweisführung. Zu hoffen bleibt, dass die unentgeltliche Rechtspflege nicht auch bei der vorsorglichen Beweisführung zwecks «Beweissicherung» verneint wird.
Ein gewisser Anlass zu Hoffnung besteht; immerhin betrafen die bisherigen Entscheide, in denen eine Kostenhilfe verweigert wurde, «nur» die Abklärung von Prozesschancen.27 Die darin primär enthaltene Begründung, dass im Verfahren zur vorsorglichen Beweisführung noch kein Verlust materieller Rechte drohe, könnte in Zusammenhang mit der vorsorglichen Beweissicherung schwerlich angeführt werden.28