Die Versicherungsmedizin wird in der Schweiz immer bedeutender. Neben Gutachten im Rahmen von Sozialversicherungsverfahren erstellen Versicherungsmediziner auch vermehrt Gutachten für Privatversicherer. Gutachter gelten immer mehr als die heimlichen Herren des Gerichtsverfahrens, wenn die Gesundheit und Erwerbsfähigkeit zwischen Versicherungen und Verunfallten und Erkrankten zu beurteilen ist. Ihre Befunde sollten deshalb unparteiisch ausfallen und hohen Qualitätsmassstäben genügen. Doch der Luzerner Rechtsanwalt Christian Haag kritisiert: «Inhaltlich falsche und vor allem einseitige Gutachten führen oft dazu, dass Geschädigte ihre Ansprüche verlieren.» Den Richtern und Anwälten fehle das medizinische Fachwissen, um inhaltliche Fehler eines mehrseitigen, formell korrekt scheinenden Gutachtens zu erkennen. Deshalb würden die Richter bei Fragen zur Erwerbstätigkeit oder zum Schaden immer auf die Gutachten der Mediziner abstellen. «Die meisten Fälle werden schon auf der medizinischen Ebene entschieden», so die Erfahrung von Haag. Und der Entscheid falle «mehrheitlich zugunsten der Versicherung» aus, präzisiert Holger Hügel, soeben vom Schweizerischen Anwaltsverband als 500. Fachanwalt ausgezeichnet. Der grossgewachsene Spezialist für Haftpflicht- und Versicherungsrecht mit deutschem Hintergrund ist sich sicher: «Das Problem liegt bei der Ausbildung der Gutachter.»
Über ein Dutzend Versicherungen als Partner
Für die Aus- und Weiterbildung der Gutachter ist in der Schweiz nämlich hauptsächlich die Swiss Insurance Medicine (SIM) zuständig. Der Verein wurde 2004 gegründet. In den Statuten steht, dass er den Erfahrungsaustausch unter seinen Mitgliedern und deren Weiter- und Fortbildung unter Berücksichtigung der versicherungsrechtlichen Aspekte fördert. Zudem führt er regelmässig Fachtagungen durch. Der Verein finanziert sich hauptsächlich aus den Mitgliederbeiträgen, aber auch aus Weiterbildungskursen. Die jährlichen Mitgliedschaftsbeiträge betragen für Einzelmitglieder 100 Franken, Kollektivmitglieder wie Versicherungen bezahlen 1000 Franken. Auf der Webseite sind über ein Dutzend Versicherungen als Partner aufgelistet.
Fachanwalt Hügel kritisiert: «Diese Interessengemeinschaft ist doch offensichtlich ein von der Versicherungswirtschaft durchtränkter Club.» Bruno Soltermann, Mitbegründer, Vorstandsmitglied und ehemaliger Präsident, widerspricht. Von den 15 Personen im Vorstand stünden lediglich 4 Personen einer Versicherung nahe. Anwalt Christian Haag sieht das anders: Er nennt 8 Vorstandsmitglieder, die einer Versicherung oder einer Gutachterfirma nahestehen oder den Lohn sogar direkt von einer Versicherung beziehen.
Geschädigtenanwälte lange ausgesperrt
Auf der Website der SIM sind die Vorstandsmitglieder aufgelistet. Bruno Soltermann selbst ist Chefarzt des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV), Etienne Colomb Suva-Psychiater und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Versicherungspsychiatrie, Christian A. Ludwig der Suva, Renato Marelli Mitglied der Geschäftsleitung des Zentrums für medizinische Begutachtung, Basel, und Vorstandsmitglied des Verbandes der Medas, Kurt Schweingruber Versicherungsmediziner für Versicherungsgesellschaften, Beat Seiler Chefvertrauensarzt der Versicherung Helsana, Corinne Zbären-Lutz ist die Geschäftsführerin der IV-Stellen-Konferenz und Inès Rajower Sozialversicherungsärztin beim Bund. «Vorstandspräsident Andreas Klipstein ist Geschäftsleiter eines Abklärungsinstituts für Versicherungen», ergänzt Haag.
Für Haag sind das starke Indizien gegen eine Unabhängigkeit der SIM. «Es besteht die Gefahr, dass die Versicherungen die SIM beeinflussen und dass sich das auf die erstellten Gutachten auswirkt.» Anderer Meinung ist Soltermann: «Es ist richtig, dass ich den Lohn von den Versicherern erhalte. Aber ich kann die Versicherungen auch kritisieren. Wenn ich der Meinung bin, dass sie versicherungsmedizinisch total danebenliegen, dann sage ich ihnen das.»
Auch Hans Rudolf Stöckli, Facharzt für Neurologie sowie Vorstandsmitglied und Leiter der Gutachterausildungskurse der SIM, ist mit der Kritik der Geschädigtenanwälte nicht einverstanden. Dass im Vorstand vermehrt Mediziner sitzen und mehrere von ihnen einer Versicherung nahestehen, sei eine Tatsache. «Dies kann man auch nicht verneinen.» Aber um das zu verstehen, müsse man die historische Entwicklung der SIM kennen. «Die SIM ist vor allem durch Mediziner gegründet worden.»
Laut Soltermann haben die Rechtsanwälte keinen Grund, sich zu beschweren. «Sie bekommen ja die Möglichkeit, im Vorstand vertreten zu werden.» Das aber musss sich erst noch zeigen. Geschädigtenanwälte stellten gemäss Hügel schon an der Generalversammlung 2012 den Antrag auf einen Vertreter im Vorstand – ohne Erfolg. Eine Medizinerin habe geantwortet, die SIM dürfe sich nicht für Partikularinteressen einspannen lassen.
Inzwischen aber ist laut Soltermann eine neue Fachgruppe Juristen ins Leben gerufen und ein Reglement verabschiedet. Jetzt gehe es darum, dass sich die Fachgruppe konstituiert und einen Präsidenten wählt, der dann in den SIM-Vorstand zieht.
Soltermann: «Neutral geführte Ausbildung»
Soltermann attestiert den Geschädigtenvertretern Organisationsmängel. Dieser Meinung ist auch Holger Hügel: «Die Geschädigtenvertreter waren mit Blick auf die SIM bislang nicht gut organisiert.» Aber der nun vom Vorstand der SIM zögerlich initiierte Weg über eine Fachgruppe bedeute nicht, dass der Vorsitzende der Fachgruppe der Juristen auch tatsächlich ein Geschädigtenvertreter sein werde. Denn mit der «Entsendung» vieler Juristen aus der Versicherungsbranche in die Fachgruppe wären die Mehrheitsverhältnisse leicht so zu beeinflussen, dass der Vorsitzende – und mithin das neue Vorstandsmitglied der SIM – dann doch wieder von der Versicherungsseite stamme.
Bruno Soltermann und Hans Rudolf Stöckli entgegnen ihren Kritikern, dass schon heute Juristen als Referenten beauftragt seien, und werten das als «Zeichen einer neutral geführten Ausbildung». Stöckli erwähnt als Beispiele die Geschädigtenanwälte David Husmann aus Zürich und Massimo Aliotta aus Winterthur. Von der Universität St. Gallen sei Ueli Kieser dabei.
Aliotta: «Kurse nicht ausgewogen»
Kieser bezeichnet die Ausbildung als «nicht schlecht, aber natürlich sehr summarisch». «Die Ärzte sind durchaus kritisch. So entstehen immer wieder gute Diskussionen.» Aber er wisse natürlich, dass die Ausbildung auch kritisch beurteilt werde.
So bemängelt Massimo Aliotta, dass die juristischen Referenten beim SIM keinen Einfluss auf die medizinischen Inhalte der SIM-Gutachterkurse hätten, sondern nur auf ihre juristischen Referate. «Der wesentliche Inhalt des medizinischen Teils der Kurse sowie der angebotenen medizinischen Workshops wird von der Kursleitung bestimmt.» Husmann, der bisher dreimal an SIM-Ausbildungskursen referierte, stört sich daran, wie die Versicherungsmediziner Schlüsselbegriffe, die eben auch das Recht betreffen, einseitig definieren. «Wir sollten mit den Medizinern zusammensitzen und die Definition von Begriffen wie beispielsweise ‹Arbeitsunfähigkeit›, ‹Teilkausalität› oder ‹Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit› paritätisch bestimmen.»
Seltsam mutet an, dass die Weiterbildungskurse auf der Webseite des SIM zu finden sind, die Referenten jedoch nicht bekanntgegeben werden. Stöckli gibt zu: «Dafür gibt es wirklich keinen Grund. Wahrscheinlich werden wir das demnächst ändern und die Namen einfügen.» Soltermann ergänzt, man müsse das aber noch mit den Referenten absprechen.
Neben dem Seilziehen um die Unabhängigkeit der Gutachterausbildung ist auch das unterschiedliche Selbstverständnis der Mediziner Gegenstand von Diskussionen. Rechtsanwalt Christian Haag gibt zu bedenken, es sei doch höchst fraglich, ob es zwei Arten von Medizin gebe – Versicherungsmedizin einerseits und Kurativmedizin andererseits. «So wird der gleiche Sachverhalt mit zwei Ellen gemessen. Mit dem Resultat, dass ein Patient erfahrungsgemäss oft durch seine behandelnden Fachärzte arbeitsunfähig taxiert wird, während die Versicherungsgutachter ihn versicherungsmedizinisch arbeitsfähig schreiben.»
Kurativmediziner als Partei abgestempelt
Für Regina Kunz, Professorin für Versicherungsmedizin an der Universität Basel und SIM-Vorstandsmitglied, ergibt sich diese Differenz aus dem unterschiedlichen Auftrag der Ärzte: «Ist ein Arzt als Gutachter tätig, vertritt er nicht primär die Interessen des Patienten, sondern muss die gestellten Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten.» Der behandelnde Arzt vertrete dagegen primär die Interessen des Patienten und sei damit Partei.
Auch Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, unterscheidet zwischen einer Kurativmedizin und einer Versicherungsmedizin. Das habe einen historischen Hintergrund. «Früher genügte die ärztliche Beurteilung einer Person. Das reichte so lange, bis man viele unspezifizierbare Beschwerdebilder diagnostizierte.» Irgendwann sei man zur Auffassung gekommen, die Versicherungsmedizin müsse die Frage beantworten, ob der Patient die objektiven Voraussetzungen für eine bestimmte Arbeit erfüllen könne oder nicht. «So haben sich in den vergangenen 15 Jahren die Versicherungsmedizin und die Kurativmedizin stark auseinanderentwickelt.»