Nach einem Privatkonkurs bleiben die Schulden bestehen. Schuldner müssen sie aber nur dann bezahlen, wenn sie wieder zu neuem Vermögen gekommen sind. So steht es im Gesetz (Art. 265 Abs. 2 SchKG). Dieses definiert aber nicht, was neues Vermögen ist, und es lässt verschiedene prozessuale Fragen unbeantwortet.
plädoyer wollte mehr über die Praxis der Gerichte zum neuen Vermögen erfahren und befragte erstinstanzliche Gerichte in allen Deutschschweizer Kantonen. Gegenstand der Umfrage waren das Gerichtsverfahren und die Frage, was als neues Vermögen gilt. Alle 19 angefragten Gerichte gaben bereitwillig Auskunft. Das Ergebnis der Umfrage: Die Antworten könnten unterschiedlicher nicht sein (siehe Tabellen).
1. Vor dem Verfahren
Der Schuldner wird in der Regel nicht ohne Vorwarnung betrieben. Er erhält zuerst ein Schreiben einer Inkassofirma, die ihn auffordert, Unterlagen über seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse zu schicken – also zum Beispiel die letzte Steuerrechnung oder Lohnabrechnungen. Der Schuldner ist nicht verpflichtet, solche Unterlagen herauszugeben. Falls er aber kein neues Vermögen hat, sollte er die letzte Steuerrechnung vorlegen. So bestehen Chancen, dass ihn die Inkassofirma für eine gewisse Zeit in Ruhe lässt.
Inkassobüros versuchen häufig, mehr aus dem Konkursverlustschein herauszuholen, als ihnen zusteht. Zum Beispiel verlangen sie über die Konkurseröffnung hinaus Zins oder Verzugsschaden. Beides ist nicht zulässig (Art. 265 Abs. 2 und Art. 149 Abs. 4 SchKG).1 Der Konkursverlustschein verjährt mit einer Ausnahme erst nach 20 Jahren: Stirbt der Schuldner, haften seine Erben zwar auch für die alten Konkursschulden. Ihre Haftung ist aber auf das Jahr nach dem Tod des Schuldners beschränkt (Art. 265 Abs. 2 und Art. 149a Abs. 1 SchKG). Inkassobüros wissen dies oft nicht.
2. Betreibungsverfahren
Wenn der Schuldner auf das Schreiben der Inkassofirma nicht reagiert, wird diese gegen ihn in der Regel die Betreibung einleiten. Der Schuldner kann sich dagegen wehren, indem er innert zehn Tagen Rechtsvorschlag erhebt mit der Begründung, er sei nicht zu neuem Vermögen gekommen (Art. 265a Abs. 1 SchKG). Verpasst er diese Einrede, kann er sie später nicht mehr nachholen (Art. 75 Abs. 2 SchKG). Es kommt häufig vor, dass Schuldner nach einem Konkurs vergessen, ihren Rechtsvorschlag mit fehlendem neuem Vermögen zu begründen. Warum?
- Viele Schuldner werden erst zehn oder mehr Jahre nach dem Konkurs wieder betrieben. Dann haben sie bereits vergessen, dass ihnen diese Einrede zusteht.2
- Auf dem Zahlungsbefehl steht der Hinweis auf die mögliche Einrede «kein neues Vermögen» gut versteckt auf der Rückseite. Besser ist der neue Zahlungsbefehl, der seit Herbst eingeführt wird: Unter der Rubrik «Rechtsvorschlag» steht neu das Feld «Fehlendes neues Vermögen», das der Schuldner ankreuzen kann.3
- Die Betreibungsämter klären den Schuldner in der Regel nicht darüber auf, dass er die Einrede «kein neues Ver-mögen» erheben könnte. Erst wenn er nachfragt, klären ihn die Betreibungsbeamten über seine Rechte auf. Dies ist aber nicht möglich, wenn der Zahlungsbefehl durch die Post zugestellt wird, was immer öfter vorkommt: Briefträger oder Schalterbeamte kennen sich in SchKG-Belangen nicht aus.
- Der Schuldner erkennt gar nicht, dass er wegen einer alten Konkursforderung betrieben wird. Das ist dann der Fall, wenn der Gläubiger seine Forderung im Konkurs nicht eingegeben hat. In der Rubrik «Forderungsgrund» steht dann zum Beispiel nicht «Konkursverlustschein vom 2. Februar 1991», sondern «Rechnung vom 2. April 1989».
Die Einrede, kein neues Vermögen zu haben, ist nur wirksam, wenn der Schuldner Privatkonkurs gemacht hat und dieser tatsächlich durchgeführt wurde. In den folgenden Fällen ist die Einrede nicht zulässig:
- Der Schuldner ist gar nie in Konkurs gefallen, sondern nur gepfändet worden.
- Der Konkurs wurde zwar eröffnet, später aber mangels Aktiven wieder eingestellt.
- Die Forderung, für die der Schuldner betrieben wird, ist erst nach Konkurs entstanden.
- Der Schuldner ist gestorben, woraufhin der Gläubiger die Erben betreibt. Diesen steht die Einrede nicht zu.
Wenn das Betreibungsamt feststellt, dass der Schuldner die Einrede zu Unrecht erhebt, weil er zum Beispiel nie Konkurs gegangen ist, muss es den Zahlungsbefehl dem Gericht trotzdem zur Prüfung vorlegen. Denn für die Beurteilung der Einrede ist einzig und allein das Gericht zuständig, wie das Bundesgericht 2004 entschieden hat.4 Hält sich das Betreibungsamt nicht an dieses Urteil und teilt es dem Schuldner in einer anfechtbaren Verfügung mit, dass es den Rechtsvorschlag nicht an das Gericht weiterleiten werde, muss dieser die Verfügung mit Beschwerde anfechten. Dies, weil die Verfügung laut Bundesgericht nicht nichtig, sondern nur anfechtbar ist. Tut der Schuldner dies nicht, kann er die Einrede im späteren Rechtsöffnungsverfahren nicht mehr nachholen.5
Für die Überweisung des Rechtsvorschlags an das Gericht braucht es laut Art. 265a Abs. 1 SchKG keinen Antrag des Schuldners oder des Gläubigers. Daran halten sich aber die wenigsten Betreibungsämter, wie die plädoyer-Umfrage zeigt. Nur gerade in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Graubünden und Solothurn überweisen die Ämter den Rechtsvorschlag direkt ans Gericht. In anderen Kantonen fragen die Betreibungsämter den Gläubiger, ob er will, dass der Rechtsvorschlag dem Richter vorgelegt wird. Erst wenn dieser die Überprüfung wünscht oder nicht reagiert, überweisen sie den Rechtsvorschlag ans Gericht.
Dieses Vorgehen ist sinnvoll, weil sich so viele unnötige Verfahren vermeiden lassen. Deshalb haben in einzelnen Kantonen wie zum Beispiel Luzern die Obergerichte verbindliche Weisungen für die Betreibungsämter erlassen. Sie sollen bei einem Rechtsvorschlag mangels neuen Vermögens zuerst den Gläubiger anfragen, ob er an der Betreibung festhalten will.6 Und im Kanton Glarus nimmt sich das Gericht selber die Mühe und fragt beim Gläubiger nach.
Was gilt, wenn der Schuldner gar keine Gelegenheit hatte, die Einrede zu erheben, weil er nicht betrieben wurde? Das ist dann der Fall, wenn der ehemalige Konkursite einen Gläubiger belangt, der sich die alte Konkursforderung hat abtreten lassen und der nun diese mit der Forderung des Konkursiten verrechnet. Das Bundesgericht entschied, dass die Einrede auch ausserhalb eines Betreibungsverfahrens zulässig ist.7
3. Bewilligungsverfahren
Ob direkt vom Betreibungsamt oder nach Rückfrage beim Gläubiger – der Rechtsvorschlag «kein neues Vermögen» landet irgendwann beim Gericht, das zu entscheiden hat, ob er bewilligt wird. Gemäss plädoyer-Umfrage haben die angefragten 19 Gerichte 2012 insgesamt knapp 800 Bewilligungsverfahren durchgeführt. Mit 137 Verfahren musste das Regionalgericht Bern-Mittelland die höchste Anzahl bewältigen. Am anderen Ende der Skala steht das Bezirksgericht Appenzell Innerrhoden mit 2 Fällen.
Zuständig ist das Gericht am Betreibungsort des Schuldners (Art. 265a Abs. 1 SchKG), also in der Regel an seinem Wohnort (Art. 46 Abs. 1 SchKG). Vorgängig findet kein Schlichtungsverfahren statt (Art. 198 lit. a ZPO).
Wer im Bewilligungsverfahren Kläger und wer Beklagter ist, regelt das Gesetz nicht. Die plädoyer-Umfrage ergibt: Bei 14 Gerichten ist der Schuldner der Kläger, bei den restlichen 5 der Gläubiger. Für beide Konstellationen gibt es gute Gründe – und manchmal ändern die Gerichte auch ihre Meinung. So war die Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen des Berner Obergerichts sieben Jahre lang der festen Überzeugung, dass dem Schuldner die Klägerrolle zukommt. Im Jahr 2003 wurde sie von der Zivilabteilung zurückgepfiffen.8 Seither gilt der Gläubiger als Kläger.9 Anders entschied 2012 das Obergericht des Kantons Zürich, indem es die Klägerrolle neu dem Schuldner zuwies.10
Mit der Parteirollenverteilung hängt die Frage zusammen, wer die Gerichtskosten vorschiessen muss. Nach Art. 98 ZPO kann das Gericht vom Kläger einen Vorschuss verlangen, also je nachdem vom Schuldner oder vom Gläubiger. Es gibt aber auch Gerichte, wie etwa das Bezirksgericht Frauenfeld, die der Ansicht sind, es handle sich hier um Betreibungskosten (Art. 68 SchKG). Diese muss der Gläubiger vorschiessen, unabhängig davon, ob er Kläger oder Beklagter ist.11
Das Bewilligungsverfahren findet im summarischen Verfahren statt (Art. 251 lit. d ZPO). Es kann daher schriftlich oder mündlich durchgeführt werden (Art. 253 ZPO). Die Mehrheit der angefragten Gerichte führt das Verfahren schriftlich durch. Dies erstaunt, denn viele Schuldner sind mit einem schriftlichen Verfahren überfordert. An einer mündlichen Verhandlung könnten sie vom Richter gezielter zu den einzelnen Vermögenswerten befragt werden. Allerdings wird die Gefahr, dass der Schuldner im schriftlichen Verfahren etwas vergisst, dadurch verringert, dass die meisten Gerichte – wie etwa Luzern – dem Schuldner einen umfangreichen Fragebogen zu seinen Vermögensverhältnissen schicken, den er dann als Stellungnahme einreichen kann.
Im Bewilligungsverfahren trägt der Schuldner die Beweislast. Er muss seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegen und so glaubhaft machen, dass er nicht zu neuem Vermögen gekommen ist (Art. 265a Abs. 2 SchKG). Gemäss Art. 254 ZPO sind grundsätzlich nur Urkunden als Beweismittel zulässig. Das Gericht kann im Bewilligungsverfahren wie folgt entscheiden:
- Hätte der Schuldner den Rechtsvorschlag «kein neues Vermögen» gar nicht erheben dürfen, wird er nicht bewilligt.
- Dasselbe gilt, wenn der Schuldner seine Vermögensverhältnisse nicht offengelegt hat oder – falls er dies getan hat – wenn er neues Vermögen hat. In diesem Fall stellt der Richter den Umfang des neuen Vermögens fest.
- Stellt sich heraus, dass der Schuldner kein neues Vermögen hat, wird sein Rechtsvorschlag bewilligt.
Der Entscheid gilt nur für das aktuelle Betreibungsverfahren. Wird der Schuldner von einem anderen Gläubiger betrieben, muss er sich wieder mit dem Rechtsvorschlag «kein neues Vermögen» wehren und seine Vermögenswerte vor Gericht offenlegen.
Die Gerichtskosten sind gering, weil nur eine Spruchgebühr erhoben wird (Art. 48 GebV SchKG). Bei einem Streitwert von beispielsweise 10 000 Franken darf sie nicht mehr als 300 Franken betragen. Diese Gebühren kommen dem Gläubiger entgegen, weil er in der Regel die finanziellen Verhältnisse des Schuldners nicht kennt. Er muss daher ins Blaue betreiben und trägt somit das Risiko, das Bewilligungsverfahren zu verlieren.
Anders sieht es bei der Prozessentschädigung aus. Lässt sich der Schuldner durch einen Anwalt vertreten, muss der Gläubiger eine Entschädigung für den Vertreter bezahlen, wenn er das Bewilligungsverfahren verliert. Diese bemisst sich nach den kantonalen Verordnungen über die Anwaltsgebühren. Bei 10 000 Franken Streitwert kann die Entschädigung etwa im Kanton Zürich bis zu 1600 Franken betragen.12
Ein Bewilligungsverfahren kann den Gläubiger also teuer zu stehen kommen. Daher sollte er bei einer hohen Forderung nie die ganze Summe, sondern nur einen Teil davon betreiben – zum Beispiel 1000 Franken. Im Bewilligungsverfahren kann er dann herausfinden, ob der Schuldner neues Vermögen hat. Falls ja, kann er anschliessend eine Betreibung auf den Rest des festgestellten Vermögens einleiten.
Gegen den Entscheid im Bewilligungsverfahren ist die kantonale Berufung oder Beschwerde nicht zulässig, einzig die Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht.13 Eine solche Beschwerde ist aber praktisch aussichtslos. Will sich der Schuldner oder der Gläubiger dennoch gegen das Urteil wehren, sollte er innert 20 Tagen seit dem Urteil eine Klage auf Bestreitung oder Feststellung des neuen Vermögens beim ordentlichen Gericht einreichen (Art. 265a Abs. 4).
4. Klageverfahren
Solche Verfahren sind selten, wie die plädoyer-Umfrage zeigt. 2012 führte zum Beispiel das Bezirksgericht Zürich 82 Bewilligungs- und gerade einmal 4 Klageverfahren durch. Kläger ist, wer mit dem Urteil aus dem Bewilligungsverfahren nicht einverstanden ist – der Schuldner oder der Gläubiger. Zuständig ist das Gericht am Betreibungsort des Schuldners (Art. 265a Abs. 4 SchKG), also am Wohnort (Art. 46 Abs. 1 SchKG). Ein Schlichtungsverfahren findet nicht statt (Art. 198 lit. e Ziff. 7 ZPO). Bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken wird die Klage im vereinfachten Verfahren behandelt, darüber im ordentlichen Verfahren (Art. 243 Abs. 1 ZPO).
Im Klageverfahren trägt der Gläubiger die Beweislast. Er muss nachweisen, dass der Schuldner zu neuem Vermögen gekommen ist. Weil die ZPO eine Mitwirkungspflicht der Parteien vorsieht (Art. 160 Abs. 1 lit.b ZPO), kann der Schuldner diesen Beweis nicht vereiteln, indem er im Bewilligungsverfahren seine Vermögens- und die Einkommensverhältnisse nicht offenlegt. Der Gläubiger kann die Herausgabe der letzten Steuererklärung und der Lohnab-rechnungen des Schuldners beantragen. Eine Weigerung wird das Gericht zum Nachteil des Schuldners auslegen (Art. 164 ZPO).
Im Klageverfahren sind – im Gegensatz zum Bewilligungsverfahren – alle Beweismittel zugelassen (e contrario Art. 253 ZPO). Zudem sind die Gerichtskosten höher, weil hier die kantonalen Gebührenverordnungen gelten. Bei 10 000 Franken Streitwert würde im Kanton Zürich
die ordentliche Gerichtsgebühr 1750 Franken betragen.14 Gegen das Urteil ist bis zu einem Streitwert von weniger als 10 000 Franken die Beschwerde, darüber die Berufung zulässig (Art. 319 lit a und Art. 308 Abs. 2 ZPO).
5. Pfändung
Im Umfang des im Bewilligungs- oder Klageverfahren festgestellten neuen Vermögens kann der Schuldner in der anschliessenden Pfändung bis zum Existenzminimum gepfändet werden. Er wird also wie ein Schuldner behandelt, der nie Privatkonkurs angemeldet hat. Ein Recht darauf, dass die Pfändung anteilsmässig auf das ganze Lohnpfändungsjahr verteilt wird, besteht nicht – so entschied das Bundesgericht 2009.15
6. Definition des neuen Vermögens
Das Gesetz definiert nicht, was als «neues Vermögen» gilt. Das Bundesgericht hat in verschiedenen Urteilen lediglich festgehalten, dass sich der Schuldner nach Durchführung des Konkurses wieder «wirtschaftlich und sozial soll erholen können». Ihm werde ein «standesgemässes Leben» zugebilligt.16 Eine Formulierung, die viel Raum für Interpretationen offenlässt. Oder wie es das Bundesgericht seit vielen Jahren ausdrückt: «Der Entscheid liegt weitgehend im Ermessen des Richters.»17 Als neues Vermögen wird das neue Nettovermögen betrachtet. Es wird verglichen, ob der Schuldner nach Konkurs neue Aktiven erworben hat. Diesen werden die neuen Schulden, also nicht die Schulden aus dem Konkurs, gegenübergestellt. Ein Überschuss der Aktiven kann neues Vermögen darstellen, wenn die Aktiven für das Führen eines standesgemässen Lebens nicht notwendig sind.
Eindeutig ist, was nicht standesgemäss ist: Eine Jacht etwa oder eine Ferienwohnung. plädoyer wollte von den angefragten Gerichten aber wissen, ob sie Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Auto, Fernseher und Computer oder eine Geldreserve bereits als neues Vermögen betrachten (Tabelle).
Bei den drei Gebrauchsgegenständen zeigen sich die meisten Gerichte grosszügig und zählen sie zu einer standesgemässen Lebensführung – sofern sie nicht besonders wertvoll sind (zum Beispiel Kantonsgericht Obwalden).
Anders etwa das Zivilgericht Basel-Stadt: Es betrachtet ein Auto nur dann nicht als neues Vermögen, wenn der Schuldner beruflich darauf angewiesen ist, das Auto also als Kompetenzstück im Sinne von Art. 92 Abs. 1 Ziffer 3 SchKG gilt.
Gross sind die Unterschiede bei der Bemessung der Geldreserve. Einen zulässigen Maximalbetrag konnten nur die Gerichte in Appenzell Ausserrhoden (5000 Franken), Uri (10 000 Franken) und Nidwalden (15 000 Franken) nennen. Die meisten anderen Gerichte stellen den Betrag wieder ins «Ermessen des Richters» (Bezirksgericht Liestal) oder erlauben eine Reserve in der Höhe der Lebenshaltungskosten von einem (Kantonsgericht Schaffhausen) bis maximal drei Monaten (Bezirksgericht Schwyz). Was gilt, wenn ein Schuldner sein Bargeld verprasst, weil eine Betreibung droht, und der Gläubiger dies herausfindet? Das Gericht kann den verprassten Teil dem Schuldner als fiktives Ver-mögen anrechnen. So hat das Bundesgericht bei einer Schuldnerin entschieden, die innert zwei Jahren 130 000 Franken aus einer Lebensversicherungspolice aufbrauchte.18
Seit der SchKG-Revision von 1997 können auch Werte als neues Vermögen qualifiziert werden, die dem Schuldner rechtlich nicht gehören, über die er aber wirtschaftlich verfügt (Art. 265a Abs. 3 SchKG). Gemäss der plädoyer-Umfrage kommt diese Bestimmung praktisch nie zur Anwendung. In einem der seltenen Fälle war ein Schuldner bei der Firma seiner Ehefrau zu einem tiefen Lohn angestellt. Faktisch führte er aber das Unternehmen. Das Gericht rechnete daher einen Teil des Firmenwertes dem Vermögen des Schuldners zu.19
7. Einkommen als neues Vermögen
Neben dem Nettovermögen kann auch der Lohn als neues Vermögen angerechnet werden. Das ist möglich, seit das Bundesgericht das «vermögensbildende Einkommen» erfunden hat. Das heisst: Der Schuldner verdient mit seinem Lohn mehr als das für ein standesgemässes Leben Notwendige.20 Er könnte also Vermögen bilden. Ob dieses tatsächlich vorhanden ist, spielt keine Rolle.
Dieses vermögensbildende Einkommen berechnen die Gerichte laut Umfrage höchst unterschiedlich: Praktisch alle Gerichte gehen vom Einkommen und den Ausgaben im Jahr vor der Zustellung des Zahlungsbefehls aus. Weshalb nicht in einem längeren Zeitraum? Nach Gesetz soll ja beurteilt werden, ob der Schuldner seit seinem Konkurs wieder zu Geld gekommen ist. Der Gläubiger könnte vom Gericht verlangen, dass es mehrere Jahre berücksichtigt. Diese Möglichkeit hat das Obergericht des Kantons Solothurn in einem Urteil zumindest angetönt.21 Eine Ausnahme bilden das Bezirksgericht Plessur und das Richteramt Solothurn-Lebern. Diese zwei Gerichte beurteilen die Einkommensverhältnisse im Zeitpunkt des Urteils.
Was gilt, wenn der Gläubiger den Schuldner bereits einen Monat nach Beendigung des Konkursverfahrens wieder betreibt? Welcher Zeitraum wird als Berechnungsgrundlage eingesetzt? Es kann nur die Zeitspanne ab Beendigung des Konkurses gelten. Denn der Schuldner soll sich vom Konkurs erholen können. Dies kann er erst, wenn das Verfahren abgeschlossen ist. Andernfalls könnte man zudem auf das Einkommen des Schuldners greifen, das er während des Konkursverfahrens verdient, das aber nicht in die Konkursmasse gehört.22
Grundlage für die Berechnung der monatlichen Ausgaben ist das betreibungsrechtliche Existenzminimum. Dieses berechnet sich in den meisten Kantonen nach den Richtlinien der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten der Schweiz.23 Einige Kantone wie Bern oder St. Gallen haben eigene Richtlinien, die aber im Wesentlichen denjenigen der Konferenz entsprechen.
Da der Schuldner nach dem Konkurs ein «standesgemässes Leben» führen können soll, werden ihm diverse Zuschläge gewährt, die im betreibungsrechtlichen Existenzminimum nicht enthalten sind: Alle angefragten Gerichte gewähren auf dem monatlichen Grundbetrag einen Zuschlag, der je nach Gericht zwischen 25 (Bezirksgericht Aarau) und 100 Prozent (Regionalgericht Bern-Mittelland) beträgt. Bei einem Grundbetrag von 1200 Franken für eine alleinstehende Person beträgt der Zuschlag also im schlechtesten Fall 300 Franken und im besten Fall 1200 Franken. Hinzu kommt, dass es Gerichte wie das Kantonsgericht Nidwalden gibt, die keinen festen Zuschlag kennen, sondern einen Rahmen.
In Nidwalden beträgt dieser zwischen 66 und 100 Prozent. Das kann zu seltsamen Resultaten führen, wie das Beispiel einer Schuldnerin zeigt. Sie wurde 2010 und 2012 von einem Inkassobüro für alte Konkursschulden von 1998 betrieben. Beide Male erhob sie Rechtsvorschlag mit der Begründung, kein neues Vermögen zu haben. Im ersten Verfahren gewährte ihr das Gericht einen Zuschlag von 100 Prozent,24 im zweiten nur noch einen von 75 Prozent,25 obwohl die Schuldnerin beide Male praktisch gleich viel verdient hat. Der Grund: Beurteilung durch zwei verschiedene Richter und richterliches Ermessen.
2009 bewertete das Bundesgericht eine Verdoppelung des Grundbetrages als unverhältnismässig und liess nur eine Erhöhung um 50 Prozent zu. Aus diesem Urteil kann aber nicht abgeleitet werden, dass eine Erhöhung um mehr als 50 Prozent generell ausgeschlossen ist. Denn der dem Urteil zugrunde liegende Fall war sehr speziell: Unter anderem verdiente der Schuldner zusammen mit seiner Ehefrau über 16 000 Franken und die Vorinstanz war bei verschiedenen Ausgaben sehr grosszügig, liess etwa zwei Autos zu und die Privatschulkosten für ein Kind.26
Beim Zuschlag auf den Grundbetrag macht das Bezirksgericht Plessur eine Ausnahme: Das Gericht gewährt den Zuschlag nicht nur auf dem Grundbetrag, sondern auf das ganze erweiterte Existenzminimum, sofern der Schuldner nicht mehr als 7000 Franken verdient. Diese Regel ist grosszügig, widerspricht aber einem Urteil des Bundesgerichtes, das vor zehn Jahren entschieden hatte, dass der Zuschlag nur auf dem Grundbetrag und nicht auf dem erweiterten Existenzminimum erhoben werden dürfe.27 Das Bündner Gericht widersetzt sich also dem Bundesgericht. Pikant daran: Gerichtspräsident Urs Raschein ist der Sohn des ehemaligen Bundesrichters Rolf Raschein.
Neben dem Zuschlag auf dem Grundbetrag gewähren die Gerichte dem Schuldner noch weitere Zuschläge, die nicht im betreibungsrechtlichen Existenzminimum enthalten sind. Alle Gerichte berücksichtigen – wie das Bundesgericht28 – die laufenden Steuern. Die meisten auch Zahlungen an Gläubiger mit Konkursverlustscheinen. Das ist richtig, denn so ist der Schuldner motiviert, Steuern zu zahlen und Verlustscheine zurückzukaufen.
Vereinzelt berücksichtigen die Gerichte weitere Ausgaben. Zum Beispiel die Kosten für eine Rechtsschutzversicherung (Bezirksgericht Zürich) oder die 3. Säule, wenn eine Vorsorgelücke besteht (Kantonsgericht Obwalden). Gemäss plädoyer-Umfrage orientieren sich viele Gerichte dabei an einem Aufsatz, der 1998 erschien.29
8. Örtliche Gerichtspraxis
Wer einen Privatkonkurs hinter sich hat, kann nicht in Saus und Braus leben. Er kann je nach Wohnort aber ein Leben führen, das «standesgemässer» ist als an anderen Orten, weil die Gerichte unterschiedlich beurteilen, was neues Vermögen ist. Da die Resultate der plädoyer-Umfrage nicht in Stein gemeisselt sind, sollten Schuldner und Gläubiger beim zuständigen Gericht abklären, wie dieses das neue Vermögen berechnet. Zum Beispiel weiss dann der Schuldner, ob es sich lohnt, Konkursverlustscheine zurückzukaufen. Und der Gläubiger kann besser abschätzen, ob eine Betreibung etwas bringt.
Schriftliche Fassung eines Vortrags vom 18. Juni 2013 in Zürich am Seminar für Schuldbetreibung und Konkurs (SSK).
1 Michael Krampf, «Plötzliche Einsicht dank dem Beobachter», in: Beobachter Nr. 11/2009, S. 13.
2 Michael Krampf, «Kein Pardon bei Fehlern», in: Beobachter Nr. 13/2013, S. 34.
3 Michael Krampf, «Ankreuzen nicht vergessen», in: Beobachter Nr. 21/2013, S. 9.
4 BGE 130 III 678, E. 2.1.
5 BGE 130 III 678, E. 2.2.
6 Weisung der Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichtes des Kantons Luzern vom 22. Februar 1997.
7 BGE 133 II 620, E. 2.–4.5.
8 Kreisschreiben Nr. A 5 der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen des Obergerichtes des Kantons Bern vom 18. Februar 2004.
9 Kreisschreiben Nr. B 18 der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen des Obergerichtes des Kantons Bern vom 1. Januar 2011.
10 Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. Januar 2012.
11 Mündliche Auskunft von Rudolf Fuchs, Präsident des Bezirksgerichts Frauenfeld.
12 §§ 2, 4 und 5 der Verordnung über die Anwaltsgebühren vom 8. September 2010 und Auskunft von Rainer Egli, Richter am Bezirksgericht Zürich.
13 BGE 5D_153/2011 vom 21. November 2011, E. 1.3.
14 § 4 der Gebührenverordnung des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 8. September 2010.
15 BGE 136 III 51, E. 3.4.
16 BGE 135 III 424, E.2.1 (französisch) = Praxis 2010 Nr. 21.
17 BGE 99 Ia 19, E. 3.b.
18 BGE 5A_283/2007, E. 2.3.
19 BGE 5A_452/2009, E. 3.–4.2.
20 BGE 99 Ia 19, E. 3.b.
21 Urteil des Obergerichtes des Kantons Solothurn vom 12. Juli 1985, SOG 1985 Nr. 14.
22 BGE 121 III 382, E.2.
23 Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (Notbedarf) nach Art. 93 SchKG vom 1. Juli 2009.
24 Entscheid des Kantonsgerichtes Nidwalden vom 9. September 2010.
25 Entscheid des Kantonsgerichtes Nidwalden vom 24. Oktober 2012.
26 BGE 135 III 424, E. 2.3 (französisch) = Praxis 2010 Nr. 21.
27 BGE 129 III 385, E. 5.2.2 (französisch) = Praxis 2004 Nr. 30.
28 BGE 129 III 385, E. 5.2.1 (französisch) = Praxis 2004 Nr. 30.
29 Beat Gut, Felix Rajower, Brigitta Sonnenmoser, «Rechtsvorschlag mangels neuen Vermögens unter besonderer Berücksichtigung der zürcherischen Praxis», in: AJP 1998, S. 529 ff. Neuere Literatur zum neuen Vermögen: Ueli Huber, Art. 265–265a SchKG, Basler Kommentar, 2. Auflage, Basel 2010; Eric Muster, «Le retour à meilleure fortune: un état des lieux», in: BlSchK Nr. 1/2013, S. 1 ff.; Sven Rüetschi, «Vorfragen im schweizerischen Zivilprozess», in: Schriften zum Schweizerischen Zivilprozessrecht, Band 12, Zürich/St. Gallen 2011, S. 305 ff.; Guido Näf, Art. 265-265a SchKG, Kurzkommentar SchKG, Basel 2009; Dominik Vock, Danièle Müller, SchKG-Klagen nach der Schweizerischen ZPO, Zürich 2012, S. 94 ff.