Der Zeitplan ist ambitioniert, die Nervosität unter den Beteiligten entsprechend gross, und es geht um nichts Geringeres als Rechtsstaatlichkeit, Humanität und Fairness. Auf dem Spiel stehen die höchsten Rechtsgüter überhaupt. Das räumt auch Mario Gattiker, Vorsteher des Staatssekretariats für Migration (SEM) unumwunden ein: Leib, Leben und Freiheit. Und das in einer zunehmend schwierigen Ausgangslage. Kürzlich teilte das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit, dass Ende 2017 weltweit so viele Menschen wie noch nie auf der Flucht waren: 68,5 Millionen – 4,6 Millionen mehr als ein Jahr zuvor.
200 Vollzeitstellen für Juristen
Die Schweiz führt am 1. März 2019 in sechs Asylzentren definitiv das beschleunigte Asylverfahren ein, nach Probeläufen in den Testbetrieben in Zürich und der Westschweiz. Die Rede ist von künftig 5000 Plätzen für Asylbewerber. Unabdingbare Voraussetzung für die angestrebte markante Beschleunigung der Verfahren ist ein ausgebauter Rechtsschutz. In einer ersten, groben Schätzung geht das Staatssekretariat für Migration davon aus, dass dafür rund 200 Vollzeitstellen für Juristinnen und Juristen notwendig sein werden. Das basiert auf der Annahme, dass pro Jahr etwa 24 000 Asylgesuche zu behandeln sind. Die Erfahrung aus den Testbetrieben zeigt, dass die unentgeltlichen Rechtsvertreter in aller Regel nicht im Vollpensum arbeiten. Deshalb ist von einem Bedarf von bis zu dreihundert Juristinnen und Juristen auszugehen.
Wie ist es möglich, innert weniger Monate eine solche Heerschar an qualifizierten Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern zu rekrutieren? In die Bresche springen die drei Universitäten Bern, Freiburg und Neuenburg, die im Schnellzugstempo einen neuen CAS-Weiterbildungskurs (Certificate of Advanced Studies) für die unentgeltliche Rechtsberatung im beschleunigten Asylverfahren auf die Beine stellten. Ein erster deutschsprachiger Kurs für höchstens dreissig Teilnehmer wird Anfang November 2018 an der Universität Bern stattfinden. Hinter dem CAS stehen die drei Professoren Alberto Achermann (Uni Bern), Astrid Epiney (Uni Freiburg) und Pascal Mahon (Uni Neuenburg). Ein zweiter Kurs auf Französisch wird im Frühling 2019 in Freiburg durchgeführt. Im gleichen Jahr sollen weitere Kurse folgen. Die Kosten für den CAS werden pro Teilnehmer auf gegen 7000 Franken geschätzt.
Zum CAS zugelassen ist, wer über ein abgeschlossenes Rechtsstudium verfügt. Offen ist noch, ob auch ausländische Hochschulabschlüsse anerkannt werden und ob es genügt, wenn jemand kurz vor dem Master steht. Die notwendige praktische Erfahrung von nur gerade drei Monaten, die für einen unentgeltlichen Rechtsberater verlangt wird, kann vor, während oder nach dem CAS-Kurs absolviert werden.
Der Bund ist auf die Universitäten angewiesen
Diese sehr niedrige Schwelle für einen Job als Rechtsvertreter im beschleunigten Asylverfahren nennt Thomas Segessenmann, juristischer Adjunkt beim SEM, einen Tribut an den Mangel an Fachkräften. Seine Arbeitskollegin Nora Schönborn spricht von einem neuen, noch nicht etablierten Arbeitsmarkt. Das SEM hofft auf tatkräftige Unterstützung der Universitäten und der Anwaltschaft. «Die unentgeltliche Rechtsvertretung ist die grösste Neuerung innerhalb des beschleunigten Asylverfahrens,» sagte Mario Gattiker an einer Tagung des SEM in Bern: «Der umfassende Rechtsschutz als flankierende Massnahme stellt eine verfassungsrechtliche Voraussetzung dar.»
Alberto Achermann, einer der Initianten des neuen Weiterbildungsangebots, sieht die neue Aufgabe der Universitäten pragmatisch: «Wir wollen einen Beitrag zur Qualitätssicherung leisten, und zwar von Anfang an. Ein guter Rechtsschutz ist unabdingbar. Wir hinterfragen den rechtlichen Rahmen nicht, was eine kritische Haltung allerdings nicht ausschliesst. Das wollen wir auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vermitteln.» Ganz bewusst fragten die drei Universitäten nicht um eine finanzielle Beteiligung des SEM nach – der Unabhängigkeit zuliebe.
Achermann kennt die Kritik an der unentgeltlichen Rechtsvertretung: Die stark verkürzten Fristen, die räumliche Nähe zur Gegenpartei, die Möglichkeit, sich einer Beschwerdeführung zu verweigern, die knausrige Pauschalvergütung, die fehlende unabhängige Qualitätskontrolle oder aber die Gefahr der ungleich langen Spiesse. Letzteres manifestiert sich beispielsweise bei den Länderanalysen. Das SEM verfügt über langjährige Erfahrung und spezialisierte Mitarbeiter für Länderanalysen – die oft noch jungen Rechtsberaterinnen und -berater mit wenig praktischer Erfahrung verfügen in keiner Art und Weise über ein vergleichbares Back-Office.
Was die Länderanalysen betrifft, die im Asylverfahren eine entscheidende Rolle spielen können, schlägt Alberto Achermann eine Lösung mit einer unabhängigen Stiftung vor, welche die Länderanalyse betreibt und die Resultate allen Involvierten zur Verfügung stellt. «Heute», sagt der Berner Professor und Rechtsanwalt, «betreiben in der Schweiz bis zu vier Stellen unabhängig voneinander Länderanalysen – unter anderen das SEM, das Bundesverwaltungsgericht, die Flüchtlingshilfe oder etwa spezialisierte Anwaltskanzleien wie jene des Berner Fürsprechers Gabriel Püntener. Es wäre sinnvoll, die Kräfte zu bündeln.» Püntener gilt als einer der hartnäckigsten und erfolgreichsten Asylanwälte der Schweiz (plädoyer 1/2017).
Es braucht unabhängige Informationen
Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Länderanalysen zu beschäftigen (430 Stellenprozente). Das Team gehört zu den wissenschaftlichen Diensten, die dem Generalsekretariat zugeordnet sind. «Sie orientieren sich bei ihrer Tätigkeit an den COI-Richtlinien, den «Country of Origin»-Informationen. Die Länderanalysten sind weder fachlich noch personell den rechtsprechenden Abteilungen unterstellt und haben keine Einsicht in die Beschwerdeverfahren», sagt Andreas Notter, Sprecher des Bundesverwaltungsgerichts. Grund für die eigens erstellten Länderanalysen ist die Aufgabe des Gerichts, im Beschwerdeverfahren von Amtes wegen den Sachverhalt zu überprüfen. Das Gericht darf sich dabei nicht einfach auf die Informationen der Vorinstanz abstützen. Ausserdem, so Notter, sei das SEM im Asylbereich Verfahrenspartei: «Deshalb sind unabhängige Informationen relevant.»
Im neuen CAS-Kurs treffen die künftigen Rechtsvertreter auf Experten aus den Gerichten, der Praxis und der Wissenschaft. Die Teilnehmer werden nicht nur im materiellen Recht und im Verfahrensrecht getrimmt, sie lernen auch, Rechtsschriften zu verfassen, Recherchen zu tätigen (etwa im Bereich der Länderanalysen) – und sie befassen sich ausführlich mit dem Rollenverständnis. Dieser Schwerpunkt hat nicht zuletzt mit dem neuen Berufsstand zu tun, den Walter Kälin und Nula Frei in einem Gutachten als eine spezifisch ausgestaltete Form des unentgeltlichen Rechtsbeistands gemäss Artikel 29 Absatz 3 der Bundesverfassung qualifizieren – als eine «besondere Kategorie der amtlichen Verbeiständung» (siehe Kasten). An anderer Stelle beschreibt das Gutachterduo die unentgeltliche Rechtsvertretung als ein «hybrides Berufsmodell».
Die Fragen zum Rollenverständnis sind umso mehr gerechtfertigt, als sich die Rechtsvertreter in einem deutlich engeren Rahmen bewegen müssen als die Rechtsanwälte. Auch die Regeln der amtlichen Verbeiständung gelten für sie nicht ausnahmslos. Ein Beispiel dafür sind die kritisierten Pauschalvergütungen. In den heutigen Testbetrieben dürfen die unentgeltlichen Rechtsvertreterinnen und -vertreter nicht etwa ihren Aufwand benennen und bezahlen lassen. Sie müssen die Asylbewerber innerhalb eines knapp bemessenen, unabhängig vom Aufwand und von der Komplexität des Falls vorgegebenen Budgets beraten – allfällige Beschwerdeerhebung inklusive. Die Fallpauschale im Zürcher Testbetrieb beträgt knapp 1400 Franken (plädoyer 2/2015). Auch im Westschweizer Testbetrieb an den beiden Standorten Boudry NE und Giffers FR wird mit Pauschalen gearbeitet. Deren Höhe mag Stefan Gribli von der Caritas Schweiz nicht nennen. Walter Kälin und Nula Frei schreiben in ihrem Gutachten, das sich mit dem Zürcher Testbetrieb befasst, von einer «sehr tiefen» Pauschale: «Bei einem (sehr niedrig angesetzten) Stundenansatz von 100 Franken würde sie zirka 13 Arbeitsstunden pro asylsuchende Person umfassen, wobei bereits ein Grossteil dieser Stunden für die Begleitung zur Erstbefragung und zur Anhörung verwendet werden muss.»
Rechtsvertreter können Mandat niederlegen
Im Rahmen der beschleunigten Asylverfahren ist es den unentgeltlichen Rechtsvertretern erlaubt, das Mandat niederzulegen, indem sie sich weigern, für ihre Klienten eine Beschwerde zu führen, wenn sie das für aussichtslos halten. Diese Möglichkeit ist angesichts der kurzen Fristen auftrags- und anwaltsrechtlich problematisch. Kälin und Frei befürchten eine erhöhte Gefahr für Mandatsniederlegungen zur Unzeit, «durch welche die Rechtsvertretung zivilrechtlich schadenersatzpflichtig werden könnte». Die Beendigung des Mandats durch eine einseitige Mitteilung seitens der Rechtsvertretung stehe im Widerspruch zu den Grundsätzen der amtlichen Verbeiständung. Das Gutachterduo empfiehlt deshalb, nicht leichthin von einer Aussichtslosigkeit auszugehen.
In einer Evaluation des Zürcher Testbetriebs wurde festgestellt, dass die Beschwerden um rund einen Drittel zurückgingen. Das SEM wertet dieses Resultat als Erfolg und als Zeichen einer funktionierenden Rechtsvertretung. Melanie Aebli, Geschäftsführerin der Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) und der Basler Advokat Markus Husmann zweifeln an dieser Lesart (plädoyer 6/2015). Die beiden Autoren stützen sich auf ein von der DJS in Auftrag gegebenes Gutachten von Martina Caroni und Nicole Schreiber, das zum Schluss kommt, die Verfassungsmässigkeit des beschleunigten Verfahrens sei in mehreren Punkten fraglich.
Zahlen des Bundesverwaltungsgerichts zeigen: Zwischen Februar 2014 und Mai 2018 gingen aus dem Zürcher Testbetrieb 539 Beschwerden ein. Davon waren bis Anfang Juni 482 Fälle erledigt. Nur gerade 16 davon wurden gutgeheissen. In 39 Fällen kam es zur Rückweisung an die Vorinstanz.
Ab dem 1. März 2019, wenn in sechs Asylregionen die Bundesasylzentren in Betrieb sein werden, wird sich die Frage der Qualitätssicherung der unentgeltlichen Rechtsvertretung noch drängender stellen. Alberto Achermann konstatiert, dass bis heute kein Instrument einer regionenübergreifenden Überwachung und Kontrolle vorgesehen ist; ein Umstand, der auch von Joachim Stern, Leiter der Rechtsabteilung des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein, bemängelt wird.
Praxis muss in allen Regionen einheitlich sein
Beide, Stern und Achermann, betonen, es dürfe aus Gründen des Gleichheitsgebots keine unterschiedlichen Standards in den Regionen geben. Zwar sei positiv, dass die Rechtsberatungsstellen verpflichtet werden, untereinander zu koordinieren, sagt Joachim Stern. Es falle aber auf, dass es bei der unentgeltlichen Rechtsvertretung an effektiven Aufsichtsmechanismen fehle: «Ein unabhängiges Expertengremium könnte auch dem SEM helfen, sicherzustellen, dass die Leistungen erbracht werden, ohne in die verfassungsrechtlich gebotene Unabhängigkeit einzugreifen», kommentiert Stern. «Die rechtlichen Leistungen müssen einheitlich auf hohem Niveau erbracht werden. Es darf nicht zu parallel laufenden Entwicklungen, zu einer uneinheitlichen Praxis kommen.» Alberto Achermann erwähnt die niederländische Praxis mit einem qualitätsüberprüfenden Gremium, das aus Fachleuten und Professoren besteht. Die angestrebte «unité de doctrine» wird allerdings durch die vom SEM beschlossene Sprachregionen-Einteilung nicht gerade gefördert. Für die gesamte Zentralschweiz gilt, zusammen mit der Südschweiz, Italienisch als Verfahrenssprache.
Das SEM delegiert sowohl die Aus- und Weiterbildung der Rechtsvertreter als auch die Qualitätskontrolle an die Leistungserbringer – also an jene Organisationen, welche die Beratung und Rechtsvertretung in den Asylzentren dereinst übernehmen sollen. Bei den Testbetrieben in Zürich und in der Westschweiz kam zum Zug, wer «für den Auftrag relevante Erfahrung» nachweisen konnte, ein überzeugendes Konzept hatte, über «Schwankungstauglichkeit» verfügte, aber auch, wer ein «wirtschaftlich günstiges Angebot» unterbreitete. Die «Gratisanwälte», wie die unentgeltlichen Rechtsvertreter von gewissen Kreisen gerne genannt werden – polemisch und unkorrekt –, dürfen den Staat nicht zu teuer zu stehen kommen.
Gutachten zum Rechtscharakter der Vertretung
Der Berner Professor für Staats- und Völkerrecht Walter Kälin und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Nula Frei haben den Rechtscharakter der Rechtsvertretung in der Testphase für das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte analysiert. In ihrem 2015 publizierten Gutachten kommen sie zum Schluss, dass es sich bei der unentgeltlichen Rechtsvertretung im beschleunigten Asylverfahren um eine «spezifisch ausgestaltete Form des unentgeltlichen Rechtsbeistands gemäss Artikel 29 Absatz 3 BV und damit um eine besondere Form der amtlichen Verbeiständung handelt».
Das Rechtsverhältnis zwischen der Eidgenossenschaft und der Leistungserbringerin (etwa der Caritas Schweiz oder der im Zürcher Testbetrieb tätigen Bietergemeinschaft) bezeichnen die Autoren als einen öffentlich-rechtlichen Vertrag. Zwischen der Leistungserbringerin und den Rechtsvertretern hingegen entstehe ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag – und zwischen den Rechtsvertretern und den Asylsuchenden kein direktes Vertragsverhältnis, da diese als Organe der Leistungserbringer tätig würden. Dennoch seien die Rechtsvertreter gegenüber den Asylsuchenden aufgrund von anwalts- und auftragsrechtlichen Sorgfaltspflichten gebunden.
Das Verhältnis zwischen den Asylsuchenden und den Leistungserbringern bezeichnen die Gutachter als ein privatrechtliches Auftragsverhältnis: «Ein öffentlich-rechtliches Verhältnis wäre nur dann zu bejahen, wenn die Rechtsvertretung analog zur notwendigen Verteidigung im Strafverfahren gegen den Willen der Asylsuchenden angeordnet werden könnte, was jedoch nicht der Fall ist.»