plädoyer: Das Parlament produziert mehr Gesetze denn je – doch die arbeitsrechtlichen Vorschriften im Obligationenrecht sind noch fast gleich wie vor 30 Jahren. Schläft das Parlament oder besteht kein Handlungsbedarf?
Kurt Pärli: Anstelle des Parlaments hat das Bundesgericht in diesem Bereich Rechtsfortbildung betrieben. Manchmal ist es die Rolle des Gerichts, vorzupreschen. Irgendwann muss dann aber auch der Gesetzgeber tätig werden. Dieser verfügt nämlich über die demokratische Legitimation. Nicht zu vergessen ist: Die Gesamtarbeitsverträge (GAV) wurden in den letzten 30 Jahren stark verbessert.
Daniella Lützelschwab: Auch im Arbeitsgesetz hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Es wurden einige Schutzgedanken und Modernisierungen aufgenommen, die man vor 50 Jahren noch nicht hatte. So etwa der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung in Artikel 73 a und die erleichterte Arbeitszeiterfassung in Artikel 73 b der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz.
plädoyer: Die Delegation der Entwicklung des Arbeitsrechts an die Gerichte hat einen grossen Nachteil: Sie führt zu einer Zersplitterung des Rechts. Das Bezirksgericht Hinwil ZH etwa und das Regionalgericht Bern-Mittelland entscheiden in arbeitsrechtlichen Fragen unterschiedlich. Und die wenigsten Fälle erreichen den Streitwert, um sie ans Bundesgericht weiterziehen zu können.
Lützelschwab: Die gerichtliche Beurteilung im Einzelfall – gestützt auf die bestehenden Regulierungen – ist der richtige Weg. Die Tendenz, für alle Fragen zusätzliche gesetzliche Einheitsregelungen festlegen zu wollen, ist der falsche Weg zu praxistauglichen Lösungen.
Pärli: Auch ich finde die gerichtliche Beurteilung in vielen Fällen die beste Lösung.
plädoyer: Heute erhalten die Angestellten in der Schweiz je nach Kanton und Gericht bei Krankheit unterschiedlich viel Lohn. Die Gerichte entscheiden frei, ob sie die Basler, Berner oder Zürcher Tabelle anwenden wollen. Das führt zu Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit. Müsste Artikel 324 a nicht endlich einmal konkretisiert werden?
Pärli: Die Anwendung der verschiedenen Tabellen finde ich problematisch. Aber dies ist schon lange der Fall. Und es funktioniert einigermassen. Nicht zuletzt wegen der Gesamtarbeitsverträge, die Taggeldversicherungen für zwei Jahre in der Höhe von 80 Prozent des Lohns vorsehen. Nicht alle Angestellten profitieren aber von einer besseren Regelung in einem GAV oder in einem Einzelarbeitsvertrag. Bei der Lohnfortzahlung bei Krankheit sehe ich Handlungsbedarf für den Gesetzgeber.
Lützelschwab: Bezüglich der gesetzlichen Lohnfortzahlungspflicht im Krankheitsfall müsste man zunächst erheben, ob überhaupt ein Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung besteht. Denn heute übertreffen in der Praxis viele Unternehmen diese gesetzliche Minimallösung durch eine mehrjährige Taggeldversicherungslösung. Ich bin deshalb nicht der Ansicht, dass eine Vereinheitlichung der gesetzlichen Tabellen massive Vorteile bringen würde. Im Gegenteil, sie könnte dazu führen, dass weitergehende betriebliche Lösungen zurückgenommen würden.
plädoyer: Wäre der Arbeitgeberverband dagegen, dass eine der drei gebräuchlichen Tabellen Gesetz wird?
Lützelschwab: Ich sehe keinen Vorteil einer solchen gesetzlichen Regelung gegenüber der heutigen Rechtspraxis. Die Lohnfortzahlungsregelung entnimmt der Angestellte heute seinem Arbeitsvertrag. Dieser kann auch einen Verweis auf einen Gesamtarbeitsvertrag oder auf eine Taggeldversicherungslösung vorsehen. In der Praxis sehe ich nicht viele Fälle, in denen ein Arbeitnehmer nicht weiss und auch nicht in Erfahrung bringen kann, welchen Lohnfortzahlungsanspruch er im Krankheitsfall hat.
plädoyer: Nach dem heute gültigen Obligationenrecht kann einem Angestellten nach vierzig Dienstjahren innert einer Frist von einem Monat gekündigt werden, wenn das im Arbeitsvertrag so vereinbart ist (Artikel 335 c Absatz 2). Ist das nicht eine anachronistische, revisionsbedürftige Regelung?
Pärli: Die Form- und Verfahrensfreiheit bei Kündigungen gegenüber Personen, die beispielsweise 30 Jahre und mehr im Betrieb gearbeitet haben, ist sehr störend. Vor einer Kündigung müsste eine Anhörungspflicht gesetzlich verankert werden. Für ältere Arbeitnehmer mit vielen Dienstjahren hat das Bundesgericht in den letzten Jahren eine erhöhte Fürsorgepflicht eingeführt. Das ist richtig. Nun ist aber die Zeit reif für eine Diskussion im Parlament über den Schutz von älteren Angestellten auf Gesetzesstufe. Ganz allgemein sind bei einer missbräuchlichen Kündigung die Entschädigungen zu tief. Zudem sollte sich die Entschädigung an einer bestimmten Höhe orientieren – etwa am maximalen UVG-Lohn und nicht wie heute am individuellen Lohn des Entlassenen. Wer wenig verdient, erhält heute eine geringere Entschädigung als ein Gutverdiener. Das widerspricht der Idee einer Pönalentschädigung.
Lützelschwab: Viele Arbeitgeber vereinbaren mit den Angestellten jeweils die gesetzlichen Kündigungsfristen. Somit gilt die einmonatige Kündigungsfrist nur für das erste Dienstjahr. Einmonatige Kündigungsfristen bei so langen Betriebszugehörigkeiten sind ein Ausnahmefall. Längere Kündigungsfristen können auch nachträglich vereinbart werden. Wer 30 Jahre in einer Firma arbeitete, hat üblicherweise eine Kündigungsfrist von drei Monaten.
plädoyer: Der 13. Monatslohn ist in den Betrieben heute stark verbreitet, im Gesetz existiert er nicht. Wäre es Zeit für eine gesetzliche Regelung?
Pärli: Der Lohn lässt sich grundsätzlich frei vereinbaren. Auf meiner Prioritätenliste der nötigen Änderungen im Arbeitsrecht steht der 13. Monatslohn relativ weit unten. Wichtig ist, dass den Arbeitnehmern klar ist, ob sie Anspruch auf einen 13. Monatslohn haben.
Lützelschwab: Das Schweizer Arbeitsrecht baut auf der Vertrags- und Vereinbarungsfreiheit im Obligationenrecht und der zwingenden Regelungen – insbesondere zum Schutz der Angestellten – im Arbeitsgesetz auf. Die Vereinbarungsfreiheit beim Lohn ist zentral. Dort, wo Gesamtarbeitsverträge Lohnregelungen vorsehen, sind diese einzuhalten. Ein Trumpf der Schweiz ist ihr flexibler Arbeitsmarkt. Der Arbeitgeberverband sieht keinen Bedarf, diese Flexibilität aufzugeben und alles durchzuregulieren.
plädoyer: Was spricht dagegen, einen gewissen minimalen Standard ins Gesetz zu schreiben? Die unsozialen Arbeitgeber halten sich nur an das, was zwingend vom Gesetz vorgeschrieben wird.
Lützelschwab: Im Bereich des Arbeitnehmerschutzes wird das Gesetz durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung genügend ergänzt.
Pärli: GAVs sind für das Schweizerische Arbeitsrecht neben dem Obligationenrecht und dem Arbeitsgesetz zentral. GAVs sind wie ein Labor, das neue Regelungen austestet. Irgendwann sollten diese aber für alle Arbeitnehmer gelten – durch eine Verankerung im Gesetz. Denn nicht alle Firmen sind einem GAV unterstellt und haben gewählte Arbeitnehmervertreter. Das ist erst ab fünfzig Angestellten erforderlich.
plädoyer: Die Arbeit auf Abruf kam in den letzten Jahren immer mehr auf. Das Gesetz kennt sie nicht. Sehen Sie hier gesetzgeberischen Bedarf?
Lützelschwab: Nein, auch in diesem Bereich haben wir genügend rechtliche Regelungen und eine Bundesgerichtspraxis. Die Arbeit auf Abruf ist eine der Formen, welche zu den sogenannt atypisch-prekären Arbeitsverhältnissen gehört. Die vom Staatssekretariat für Wirtschaft Seco in Auftrag gegebene Ecoplan-Studie «Die Entwicklung atypisch-prekäre Arbeitsverhältnisse in der Schweiz» zeigt, dass ihr Anteil seit 2016 bei rund 2,5 Prozent verharrt. Insgesamt lag der Anteil dieser Arbeitsverhältnisse 2016 nur geringfügig über dem Wert von 2010, womit nicht von einem steigenden Trend gesprochen werden kann.
Pärli: Die Zahlen in der Studie sind tatsächlich nicht sehr hoch. Arbeit auf Abruf ist aber in gewissen Branchen wie dem Detailhandel ausgeprägt. Die Politik muss diese Entwicklung beobachten und entweder generelle oder sektorielle Lösungen finden. Im Übrigen definiert das Arbeitsgesetz, was Arbeitszeit ist. Es ist das Zurverfügungstellen der Arbeitskraft. Dazu gibt es einige Gerichtsurteile. Muss etwa jemand innert 15 Minuten im Betrieb sein, ist es gemäss einem Bundesgerichtsentscheid von 2018 Arbeitszeit und nicht Pikettzeit. Beim Pikettdienst besteht das Problem darin, dass wir heute nur wissen, dass er bezahlt werden muss – aber nicht in welcher Höhe. Es braucht noch ein paar Gerichtsurteile, um hier untere Grenzen zu setzen.
Lützelschwab: In Artikel 15 der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz steht, was Arbeitszeit ist und was Bereitschaftszeit. Die Frage der Entschädigung wird im Arbeitsgesetz nicht behandelt, da diese im Wesentlichen privates Arbeitsrecht tangiert. Das Bundesgericht hat allerdings eingeräumt, dass die Bereitschaftszeit, also die Zeit, in der sich der Arbeitnehmende für einen allfälligen Arbeitseinsatz bereithalten muss, zu entschädigen ist. Die Höhe dieser Entschädigung muss jedoch nicht zwingend dem Lohn für die Haupttätigkeit entsprechen. Sie kann in einem Vertrag zwischen dem Arbeitgeber und den Angestellten oder in einem Gesamtarbeitsvertrag geregelt sein.
Pärli: In der Praxis gibt es diesbezüglich überaus fantasievolle «Lösungen». Mit einer Woche Zusatzferien zum Beispiel will man die ganze Bereitschaftszeit eines Jahres entschädigen. Oder mit einem Franken pro Stunde. Das ist meiner Ansicht nach viel zu wenig.
plädoyer: Freistellungen von Gekündigten sind heute häufiger als früher. Müssten die Rechte und Pflichten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer hier nicht endlich einmal im Gesetz geregelt werden?
Pärli: Dies würde ich den Gerichten überlassen. Im Fall von Fussballspielern entschieden Richter beispielsweise, dass ein Sportler bei Freistellung einen Anspruch auf Training hat. In einem Gleichstellungsfall urteilte ein Gericht, die gekündigte Person sei während der Kündigungsfrist zu beschäftigen.
plädoyer: Arbeitgeber erwarten im digitalen Zeitalter grössere Flexibilität bezüglich Arbeitsort, Arbeitszeiten etc. Enthält das Arbeitsgesetz dazu genug Schutzvorschriften?
Pärli: Dazu sind im Eidgenössischen Parlament diverse Vorstösse hängig. Sie wollen das bestehende Regime der Arbeitszeiterfassung ändern. Die Arbeitszeit soll nur noch pro Jahr erfasst werden. Das Arbeitsgesetz bedarf sicher einer gewissen Modernisierung und Flexibilisierung, was die Arbeitszeiten betrifft. Es muss sowohl die Interessen der Arbeitgeber als auch die Schutzbedürfnisse der Arbeitnehmer berücksichtigen. Der Arbeitgeber sollte seinen Angestellten jedes Mal, wenn sie in der Nacht oder am Wochenende ein E-Mail bearbeiten, bezahlen müssen. Die aufgewendete Zeit sollte also stets als Arbeitszeit gelten, selbst wenn dies nur zwei Minuten sind.
plädoyer: Umgekehrt würde dann das Schreiben eines privaten E-Mails während der normalen Arbeitszeit als Freizeit gelten?
Pärli: Ja, wobei wie bei beruflichen E-Mails, die in der Freizeit geschrieben werden, auch ein gesunder Pragmatismus angezeigt ist. Wichtig ist einfach, dass sich die Bereiche Arbeit und Freizeit nicht komplett vermischen. Denn sonst besteht im Licht der hierarchischen Abhängigkeit in Arbeitsverhältnissen die Gefahr, dass die Arbeit zulasten der Freizeit und damit auch der Erholung überhand nimmt.
Lützelschwab: Das Arbeitsgesetz gibt vor, was Arbeitszeit ist. Dabei enthält es aber noch viele Regelungen, die auf das alte Fabrikgesetz zurückzuführen sind. Sie passen heute nicht mehr zur Arbeitsweise, wie sie auch von vielen Arbeitnehmern und Arbeitgebern insbesondere im Dienstleistungssektor gefordert wird. Ich möchte aber betonen, dass auch viele Angestellte heute von ihren Arbeitgebern flexible Arbeitszeiten oder beispielsweise die Möglichkeit von Homeoffice fordern. Dies erlaubt ihnen, Privates und Berufliches besser zu vereinbaren. Dazu gehört auch, dass man mal etwas Privates während der Arbeitszeit erledigt und umgekehrt ein geschäftliches E-Mail am Abend liest. Es ist aber zu unterscheiden, ob jemand seine geschäftlichen E-Mails in der Freizeit anschaut, weil es der Arbeitgeber verlangt, oder ob er dies tut, obwohl der Arbeitgeber dies gar nicht erwartet oder gar nicht will. Letzteres muss nicht zusätzlich bezahlt werden.
plädoyer: In den letzten Jahren gab es mehrfach Probleme bei der Abgrenzung von Arbeitsvertrag und Auftrag – Stichwort Scheinselbständigkeit. Ist dies ein zunehmendes Problem?
Pärli: Politisch sind Vorstösse aufgegleist, eine neue Kategorie zu schaffen, nämlich den selbständigen Angestellten. Ich erachte es aber nicht als zielführend, eine dritte Kategorie zu schaffen. Das gibt nur noch mehr Abgrenzungsprobleme. Es müsste jedoch eine gesetzliche Vermutung geben, wonach ein Arbeitsvertrag vorliegt, wenn Arbeit gegen Entgelt geleistet wird. So würde im Zweifel eher ein Arbeitsvertrag vorliegen als ein Auftrag.
Lützelschwab: Auch der Arbeitgeberverband ist gegen die Schaffung einer dritten Kategorie, weil wir uns davon nicht mehr Klarheit versprechen. Wir kennen heute Abgrenzungskriterien für die selbständige Arbeit und die unselbständige Arbeit. Dazu kommen noch die Kriterien der Gerichtspraxis.
plädoyer: Nehmen wir den selbständigen Taxifahrer, der an eine Taxizentrale angeschlossen ist, die ihm Fahrten vermittelt. Ist der Fahrer nun selbständig oder ist die Taxizentrale seine Arbeitgeberin?
Pärli: Es gibt Bundesgerichtsentscheide, wonach das Einkommen aus solchen Fahrten sozialversicherungsrechtlich Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit darstellt. Der Uber-Fall dagegen ist noch nicht entschieden, das Verfahren ist hängig. Das Sozialversicherungsgericht Zürich hat den Fall an die Suva zurückgewiesen. Sie muss feststellen, wer Arbeitgeber wäre, falls ein Arbeitsverhältnis im Sinne des Sozialversicherungsrechts vorläge, nämlich Uber Schweiz oder Uber Europa. Ich bin der Meinung, man sollte administrative Vereinfachungen prüfen. Man könnte etwa die Zahlungsflüsse bei Arbeiten für digitale Plattformen so organisieren, dass bei jeder Bezahlung der Dienstleistung auch gleich die Sozialversicherung und die Steuerverwaltung die ihnen zustehenden Anteile erhalten.
Lützelschwab: Wer heute im Auftragsverhältnis viele kleine Aufträge von verschiedenen Kunden annimmt und dabei jeweils immer nur Einkommen unter der BVG-Eintrittsschwelle verdient, wird nicht vom Obligatorium der zweiten Säule erfasst. Wenn wir uns allerdings die Arbeitsform ansehen, die heute in der Schweiz mit Abstand am stärksten verbreitet ist, so ist das mit 85 Prozent das unbefristete Anstellungsverhältnis. Die Verbreitung der neuen Arbeitsformen ist noch sehr tief. Deshalb will der Arbeitgeberverband heute keine Regulierung auf Vorrat.
Pärli: Erfahrungen in England, wo die Selbständigkeit früh gefördert wurde, zeigen aber, dass für «Ich-Unternehmer» ein Schutzbedarf besteht. Letztes Jahr mussten dort die Steuer- und Sozialversicherungsansätze für Selbständige erhöht werden. Denn auch Selbständige werden krank, auch sie werden alt.
plädoyer: Der Sozialschutz für Erwerbstätige wurde in den Gesamtarbeitsverträgen laufend verbessert. Von einem GAV profitieren aber nur jene Angestellten, die angeschlossen sind. Ist es sinnvoll, eine solche Zweiklassengesellschaft zu schaffen? Gehören diese Regelungen nicht ins Gesetz, damit sie für alle gelten?
Pärli: Für jene Angestellten, die keinen GAV haben, braucht es den Gesetzgeber. Und es braucht Richter, die den nötigen Schutz gewähren. Es gibt aber faktisch nicht nur eine Zweiklassengesellschaft, sondern eine Vierklassengesellschaft: Arbeitnehmer mit GAV oder sonstigen guten Arbeitsbedingungen, Arbeitnehmer ohne GAV in prekären Arbeitsverhältnissen, Arbeitnehmer in Arbeitslosenprogrammen und Arbeitnehmer in Beschäftigungsprogrammen der Sozialhilfe. Ich leite ein Forschungsprojekt, in dem wir Arbeit unter den Bedingungen der Sozialhilfe anschauen. Diese Leute arbeiten etwa in gemeinnützigen Projekten. Auch für diese Personen braucht es Mindeststandards.
Lützelschwab: Wenn eine Branche keinen Gesamtarbeitsvertrag hat, heisst das nicht, dass sie deshalb schlechtere Löhne bezahlt. Nehmen wir die Versicherungen, die keinen Gesamtarbeitsvertrag anwenden. Sie gehören nicht zu den sogenannten Tieflohnbranchen. Wenn kein Mindestlohn abgemacht ist, gelten bei einer Prüfung, ob allenfalls Lohndumping vorliegt, die orts- und branchenüblichen Löhne. Wir haben heute genug Schutzmechanismen.
plädoyer: Ist wenig im Gesetz geregelt, profitiert faktisch der wirtschaftlich Stärkere. Er kann in einem individuellen Arbeitsvertrag seine Vorstellungen eher umsetzen als der wirtschaftlich Schwächere.
Pärli: Das ist als allgemeine These sicher richtig. Es gibt jedoch auch Arbeitnehmer, die dank ihrer Fachkompetenz oder ihrem Exklusivwissen zu den wirtschaftlich Stärkeren gehören. Aufgabe des Arbeitsrechts ist es, einen Beitrag zum Funktionieren des Arbeitsmarkts zu leisten und den Arbeitnehmer zu schützen. Diese Aufgabe ist seit 150 Jahren dieselbe.
Kurt Pärli, 55, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel, lehrt Sozialversicherungsrecht, Arbeitsrecht und besonderes Vertragsrecht. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge (SZS).
Daniella Lützelschwab, 51, Juristin, ist Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, zuständig für das Ressort Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt. Sie ist Mitglied der Eidgenössischen Arbeitskommission.