Der Zürcher Rechtsanwalt Matthias Studer staunte nicht schlecht, als er 2001 während seines Praktikums in der Türkei eine ältere Version des Forstmoser-Klassikers zum Gesellschaftsrecht im Büchergestell fand und die darin gelesenen Erkenntnisse über die Verjährung von Verantwortlichkeitsansprüchen problemlos auf einen Fall im türkischen Recht anwenden konnte. Ebenso beeindruckt war Ahmet Kut, Rechtsanwalt bei Walder Wyss & Partner in Zürich, als er 2007 während eines Sommerkurses in Ankara an der Rechtsfakultät im Eingangsbereich diverse neuste Stämpfli-Dissertationen ausgestellt sah. Im Anschluss an die Veranstaltung wurde er sogar von einem türkischen Kollegen um Hilfe beim Verständnis einer Stelle im Zürcher Kommentar zum Sachenrecht angefragt.
Dass die Türkei im Jahre 1926 das schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) übernommen hat und bei seiner Anwendung bis heute die Schweizer Entwicklungen einbezieht, erscheint nur auf den ersten Blick exotisch und unverständlich.
Neu, vollkommen und volkstümlich
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem darauffolgenden erfolgreichen Befreiungskampf wurde der neue Rechtsstaat «Türkische Republik» im Friedensvertrag von Lausanne 1923 angehalten, sein Rechts- und Justizsystem umzustellen, namentlich die sogenannten Kapitulationen abzuschaffen (also die Sondergerichte). Um dieser Verpflichtung möglichst rasch nachzukommen, entschied sich die politische Führung für eine globale Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches und Obligationenrechts (OR). Die amtliche Begründung des Justizministers zur Wahl lautete, dass es unter den Zivilgesetzbüchern «das neuste, vollkommenste und volkstümlichste ist».
Tatsächlich war das Schweizer ZGB erst kurz davor, nämlich 1907, vom Parlament verabschiedet und 1912 in der Schweiz in Kraft gesetzt worden. Es war zum Beispiel gegenüber dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) mit seinen 1528 Artikeln um einen Drittel kürzer und verfügte über eine verständlichere Sprache und eine einfachere Gesetzestechnik. Zudem verliehen die vielen Generalklauseln dem Gesetz die nötige Flexibilität.
Eugen Huber, der Schöpfer des ZGB, war unter anderem bis zu seinem Tod im Jahr 1923 als Professor an verschiedenen Universitäten tätig. Zur gleichen Zeit studierten der spätere türkische Justizminister Mahmut Esat Bozkurt und andere türkische Juristen in der französischsprachigen Schweiz und kannten sich deswegen im schweizerischen Recht gut aus.
Dass das ZGB gewählt wurde, sei möglicherweise auch politisch motiviert, sagt Yetkin Geçer, Rechtsanwalt in Luzern und Präsident der Schweizerisch-Türkischen Anwalts- und Juristenvereinigung (STAJ) in Fribourg. Die Schweiz war eines der wenigen Länder in Europa, die nicht in den Ersten Weltkrieg involviert waren. Vor dem Weltkrieg waren verschiedene französische Gesetze in der Türkei übernommen worden. Da Frankreich als Sieger aus dem Krieg hervorging, war eine weitere Übernahme seiner Regelwerke nicht mehr denkbar.
Anwendungsprobleme im Familienrecht
Obwohl die Übernahme des ZGB somit plausibel erklärbar ist, kam dies einer «rechtlichen Revolution» gleich. Die Türkei verliess damit endgültig den islamischen Rechtskreis. Ursprünglich war das ZGB «fremdes» Recht für die türkische Gesellschaft. Es war nicht in der türkischen Gesellschaft organisch gewachsen, sondern von oben nach unten erlassen worden.
Weil Präsident Atatürk jedoch parallel zum neuen Recht viele andere westliche Standards eingeführt habe - lateinische Buchstaben, internationale Masseinheiten, aktives und passives Wahlrecht für die Frauen, Laizismus, Bekleidungsvorschriften -, habe das neue Recht in dieser Aufbruchstimmung eine gute Akzeptanz gefunden, sagt Murat Even, Partner bei Froriep Renggli in Zürich, der auf internationale Schiedsgerichtsfälle spezialisiert ist. Vor allem im Bereich des Familienrechts waren jedoch in der Praxis grosse Schwierigkeiten zu überwinden und Kompromisse zu finden.
Hans Schlosser schreibt in seinem Buch «Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte: Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext», dass das Kindschafts- und Eherecht des ZGB in der Türkei totes Recht geblieben sei. Andere Autoren drücken dies nicht so absolut aus, weisen aber ebenfalls auf die grossen Probleme gerade im Familienrecht hin.
So führen Konrad Zweigert und Hein Kötz in ihrem Klassiker zur Rechtsvergleichung (1996) Folgendes aus: «Nach altem türkischem Recht kam eine Ehe gültig dadurch zustande, dass die Verlobten oder ihre Eltern in Gegenwart von Zeugen eine entsprechende vertragliche Einigung erklärten; üblich - aber für die Gültigkeit der Ehe nicht erforderlich - war es, einen Geistlichen der islamischen Religion zu der Zeremonie zuzuziehen. Als das neue Gesetzbuch 1926 die obligatorische Zivilehe einführte, hielt die bäuerliche und kleinbürgerliche Bevölkerung der Türkei weitgehend an den alten Bräuchen fest - zumal die Ehe neuen Stils nicht mehr durch Verstossung scheidbar war -, so dass die Zahl der Kinder, die nach geschriebenem Recht unehelich, nach der Überzeugung des Volkes aber ehelich waren, allmählich so gross wurde, dass immer wieder durch besondere Gesetze eine Legitimation dieser Kinder gestattet werden musste.»
Die traditionellen Ursprünge bestehen auch heute, über achtzig Jahre nach der Übernahme des ZGB, weiter. STAJ-Präsident Yetkin Geçer erklärt, dass die Trauung im Kreise der Familie heute gefühlsmässig immer noch als viel wichtiger angesehen werde als die zivile Trauung. Die Vornahme einer religiösen Trauung vor einer zivilen stellt jedoch einen Straftatbestand nach türkischem Recht dar.
Murat Even beschreibt, dass in der Praxis in der Regel der Zivilstandsbeamte, wie früher der Geistliche, einfach auf das private Hochzeitsfest eingeladen werde, wo er die offizielle Trauung vollziehe. Der Gang aufs Standesamt erübrigt sich dadurch, und der legale Weg kann beschritten werden, obschon die Trauung im Kreise der Familie nach wie vor im Mittelpunkt steht. Even weist in diesem Kontext aber auch darauf hin, dass die Türkei teilweise in den letzten Jahrzehnten die Rechtsrealitäten schneller vollzogen habe als die Schweiz. So war zum Beispiel eine Konventionalscheidung in der Türkei viel früher möglich als in der Schweiz.
Zerrüttung als allgemeiner Scheidungsgrund
Die Scheidung einer Ehe unterliegt nach türkischem Recht - im Unterschied zum schweizerischen Recht - keiner festen Trennungsfrist, soweit die Zerrüttung der Ehe geltend gemacht wird. Nach dem türkischen ZGB ist die Zerrüttung einer Ehe ein allgemeiner Scheidungsgrund. Eine Zerrüttungsvermutung liegt im Einvernehmen der Parteien, wobei der Yarg?tay (Kassationshof) dieses annimmt, wenn die Parteien sich vollständig über die Scheidungsfolgen geeinigt haben. Die Vollständigkeit der Einigung ist zudem gegeben, wenn die Parteien gemeinsam dem Gericht beantragen, die Höhe der Unterhaltsbeiträge festzusetzen.
Bei Scheidung in der Türkei: Keine Trennungszeit
Diese Divergenzen wissen Anwälte geschickt auszunutzen. So hat in einem aktuellen Fall Yetkin Geçers das Bezirksgericht Aarau auf dessen Antrag hin bei einer Scheidung entschieden, aufgrund der Anknüpfungskaskade von Artikel 61 Absatz 2 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) das materielle türkische Recht anzuwenden, das gemäss Gericht an eine Scheidung «keine ausserordentlich strengen Bedingungen stellt», die nach Artikel 61 Absatz 3 des IPRG zur Nichtanwendbarkeit geführt hätten.
Laut Emrah Erken, Rechtsanwalt in Zürich, kann es sich im Sinne des Forum Shopping auch bei schweizerischem Wohnsitz unter Umständen lohnen, eine Scheidung in der Türkei rechtshängig zu machen, wenn die nötigen Anknüpfungspunkte vorhanden sind. Die Prüfung des Verschuldens und der Zerrüttung, die in der Schweiz 2000 abgeschafft worden sind, erfolgt in der Türkei parallel zur vierjährigen Trennungszeit oder zur Unzumutbarkeit für eine Scheidungsklage nach wie vor. Wird die Zerrüttung geltend gemacht, muss keine Trennungszeit wie in der Schweiz gemäss Artikel 114 ZGB abgewartet werden. Die Konsequenz daraus ist, dass eine Scheidung türkischer Staatsangehöriger in der Türkei bereits vor Ablauf der zweijährigen Trennungszeit nach Schweizer Recht anhängig gemacht und das ganze Verfahren dadurch in die Türkei gezogen werden kann.
Wenn eine Partei in der Schweiz lebt, muss das Beweisverfahren dann via Rechtshilfe geführt werden. So kann ein Scheidungsverfahren - vor allem wenn die Rechtsmittel ausgeschöpft werden - in die Länge gezogen werden. Da es seit 1980 in der Türkei keine Regionalgerichte mehr gibt, führt das Rechtsmittel nach der ersten Instanz direkt zum Kassationshof, welcher derzeit wegen zahlreicher Pendenzen eine Wartezeit für die Bearbeitung der Fälle von zwei bis vier Jahren verzeichnet. Mit dem letztinstanzlichen Urteil in der Türkei ist das Verfahren aber noch immer nicht abgeschlossen. Das Guthaben der Pensionskasse kann nämlich nur in der Schweiz geteilt werden, weshalb ein weiteres Verfahren in der Schweiz eingeleitet werden muss.
Auch im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wird die Nähe des schweizerischen und des türkischen Rechts (hier des OR) vermehrt ausgenutzt und von Türken gerne Schweizer Recht als anwendbar erklärt. Abgesehen davon gibt es im Zivilrecht vor ordentlichen Schweizer Gerichten nicht viele Anwendungsmöglichkeiten von materiellem türkischem Recht. Ganz anders in Deutschland, wo durch das geltende Personalstatut (Artikel 5 des Einführungsgesetzes zum BGB) vielfach das türkische Recht zur Anwendung gelangen kann. Dabei herrschte anfangs in Deutschland die Tendenz der erstinstanzlichen Gerichte, einfach das Schweizer Recht integral anzuwenden, weil es sprachlich einfacher war. Diese Praxis hat der Bundesgerichtshof in Deutschland mittlerweile aber für unzulässig erklärt.
Bis heute eine starke Anlehnung ans ZGB
Interessant ist, dass die Türkei das Schweizer ZGB nicht einfach vor über achtzig Jahren übernommen und dann einen ganz anderen Rechtsweg beschritten hat. Vielmehr wurden in der weiteren Entwicklung die Gesetzesrevisionen in der Schweiz von der Türkei aus stets verfolgt. Yesim Atamer, Assistenzprofessorin an der Instanbul Bilgi Universität, teilt die Entwicklung des türkischen ZGB im «Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts» grob in drei Phasen ein: In der ersten Phase bis Ende der Siebzigerjahre bemühte man sich vor allem, «das Gesetz zu verstehen, richtig zu deuten und in der Praxis den Gegebenheiten des Landes anzupassen». Die zweite Phase war viel mehr geprägt durch die Bemühungen der Gerichte, ein nunmehr teilweise veraltetes Gesetz weiterzuentwickeln.
Bei den Vorarbeiten zu einem total überarbeiteten türkischen ZGB wurden alle Änderungen, die zwischenzeitlich bis Mitte der Achtzigerjahre am schweizerischen ZGB vorgenommen worden waren, ausgewertet und diejenigen, die den türkischen Bedürfnissen entsprachen, übernommen. Ebenso wurde die Rechtsprechung der türkischen und der schweizerischen Gerichte berücksichtigt. Bei der sprachlichen Neuformulierung der Artikel wurde versucht, sich direkt am schweizerischen Mutterrecht zu orientieren, solange kein Grund bestand, davon abzuweichen. Der so ausgearbeitete zweite Expertenentwurf trat schon wie der erste nie in Kraft, bildete jedoch die Grundlage für den endgültigen Kommissionsentwurf, der am 1. Januar 2002 in Kraft trat und die vorläufig letzte Phase (die dritte) einleitete. Das neue türkische ZGB enthält 1030 Artikel - 53 mehr als das schweizerische - und ist neu in einer zeitgemässen Sprache abgefasst. Es entspricht weiterhin in Systematik, Unterteilung und Aufbau dem schweizerischen ZGB.
Grosse Teile der neuen Bestimmungen sind wiederum Übersetzungen der zwischenzeitlich in der Schweiz erfolgten Reformen. So wurde zum Beispiel im Jahr 2002 mit dem neuen türkischen ZGB in der Türkei auch die Errungenschaftsbeteiligung als ordentlicher Güterstand eingeführt. Über achtzig Jahre nach der Rezeption des schweizerischen ZGB kann man somit immer noch von einer starken Übereinstimmung der Texte und auch der diesbezüglichen Praxis ausgehen.
Kenntnisse des Schweizer Rechts von Vorteil
Auch heute kennen sich viele türkische Juristen im Schweizer Recht gut aus. So seien immer wieder türkische Juristen und Anwälte an einer Schweizer Universität am Promovieren, sagt Eda Manav, Rechtsanwältin bei Luther Karasek Köksal in Istanbul. «Die türkischen Anwälte konsultieren standardmässig Schweizer Literatur sowie Rechtsprechung», sagt Manav. Dies vor allem, um Rechtslücken füllen zu können, die durch die Rechtsfortbildung in der Türkei entstanden seien. Viele Anwälte konsultieren in den Bibliotheken die übersetzten Artikel aus der Schweiz. Von den rund 35 000 Anwälten in Istanbul können gemäss der Datensammlung der Istanbuler Anwaltskammer nur 100 bis 150 sehr gut Deutsch. Die anderen sind auf Übersetzungen angewiesen. Man kann insgesamt sagen, dass ein guter türkischer Jurist auch gute Kenntnisse des schweizerischen Rechts haben sollte.
Wer sich nicht weiter ins Thema vertiefen möchte, kann mindestens einen neuen Juristenwitz oder einen Tipp für seine Praxis in seine Sammlung aufnehmen: Ein Engländer und ein Türke verhandeln über die Rechtswahl im Rahmen der Schiedsgerichtsbarkeit für einen Vertrag, den sie abschliessen wollen. Sie einigen sich nach einigem Hin und Her auf das «neutrale» Schweizer Recht. Der Türke gewinnt den anschliessenden Rechtsstreit souverän.
Die Entwicklung des türkischen Zivilrechts
- Ursprünglich wurde im Osmanischen Reich die Pflichtenlehre des Islam angewandt, es richteten
die geistlichen Gerichte.
- Zu dieser geistlichen Rechtsordnung kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weltliche hinzu. Die neuen Gesetze wurden fast ausschliesslich unter französischem Einfluss vorbereitet, was insbesondere auf die Bedeutung der durch die französische Revolution ausgelösten Ideale für
die Reformbewegungen im Osmanischen Reich zurückzuführen ist.
-?Obwohl auch die Übernahme des Code Civil in Erwägung gezogen wurde, setzten sich die reaktionären Kräfte im Land durch, so dass stattdessen in den Jahren 1869 bis 1876 das erste türkische Zivilgesetzbuch (Mecelle) aus Teilen der Scharia entstand.
-?Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem folgenden sogenannten Befreiungskrieg unter der Führung Mustafa Kemal Paschas (Atatürk) wurde die Türkei völkerrechtlich im Vertrag von Lausanne 1923 zur Anpassung ihres Rechts- und Justizwesens angehalten.
-?Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik als Staatsform ausgerufen.
-?Das schweizerische Zivilgesetzbuch (1926), die beiden ersten Abteilungen des schweizerischen Obligationen-onenrechts (1926), die Zivilprozessordnung des Kantons Neuenburg (1927), das schweizerische Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (1929), das italienische Strafgesetzbuch (1929) und die deutsche Strafprozessordnung (1929) wurden fast Wort für Wort übersetzt und vom Parlament als die neuen türkischen Gesetze erlassen und damit der islamische Rechtskreis endgültig verlassen.
-?Das türkische Zivilgesetzbuch wurde in der Folge im Mai 1988, November 1990 und Mai 1997 novelliert, bis schliesslich am 1. Januar 2002 eine Neufassung in Kraft trat.